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Kapitel 12: Unheil bringende Erfindungen (Bis in die tiefsten Abgründe)

Immer wieder kreisten Gibblis Gedanken um den kaputten Schild der Mara. Sie aß kaum noch. Mit Samantha sprach sie auch fast nicht mehr. Gibbli sah ihr an, dass sie sich Sorgen machte. Aber sie wollte Samantha da nicht mit hinein ziehen. Der jungen Frau schien es selbst nicht so gut zu gehen.
„Bist du wach?“
Während Gibbli durch die oberen Stockwerke Oceas rannte, versank sie immer weiter in Gedanken und zerbrach sich den Kopf über den Adapter. Sie konnte versuchen, ihn zu bauen. Aber das würde zu lang dauern.
„Du siehst krank aus, mein Schatz.“
Es wäre möglich, sich hinunter zu schleichen und einen von den Soldaten zu stehlen. Jemand wie Sky könnte das schaffen, vorausgesetzt Jack hatte so ein Ding im Materiallager dabei. Es befand sich am Fuße der Stadt, irgendwo unter ihr.
„Unsinniges Gelaufe! Wozu soll das denn gut sein, Mädchen?“
Wenn es dort keinen gab, müsste man sich über den Aufzug in die Akademie schmuggeln und dort danach suchen. Gibbli spielte mit der Überlegung, es dem Kapitän doch zu erzählen, und verwarf diese Möglichkeit wieder. Er würde sie rauswerfen, wenn er es erfuhr, ganz sicher.
„Im Ernst, das ist so langweilig! Ich mag nicht mehr.“
Aber sie selbst war viel zu langsam. Die Soldaten würden sie erwischen. Gibbli fühlte sich unfähig und tollpatschig. Dabei hätte es so einfach sein können. Sie wusste genau, sie besaß sogar selbst so einen Adapter. Er lag unerreichbar in Mooks, im Haus ihrer Eltern, in einer Kiste unter dem Werkzeugtisch.
Wieder ertönte seine klare Stimme: „Wenn ich dir sein Messer in deine Knie ramme, wirst du dann stehen bleiben?“
Erschrocken blieb Gibbli stehen und nahm ihn erst jetzt richtig wahr. „Was tust du hier? Wie hast du mich gefunden?“
Ihr fiel auf, dass er unversehrt war, anders als Abyss in der Aufzeichnung. Um seinen nackten Oberkörper trug er eine Umhängetasche aus glänzender Fischhaut.
„Das ist meine Stadt, schon vergessen? Außerdem bist du drei Mal an mir vorbeigelaufen, ohne mich zu bemerken. Träumst du wieder? Ich renne seit einer halben und elfzig Stunden neben dir her und du beachtest mich nicht! Das ist nicht nett, Mädchen, nein das ist es gar nicht!“
„Ich … tut mir leid“, rutschte es ihr heraus, mit den Gedanken wieder beim Kapitän.
„Du entschuldigst dich? Du bist tatsächlich krank. Moment, bedeutet das, du hast mich vermisst? Ah, natürlich hast du. Ein gutaussehendes Wesen wie mich muss man einfach vermissen!“
Am liebsten hätte sie umgehend mit ihrem Lötkolben auf ihn eingeschlagen. Er war schuld an Abyss‘ Verletzungen! Doch sie sah noch immer Fetzen vom Gehirn des toten Soldaten in Gedanken im Gesicht des Oceaners kleben. Also murmelte sie nur matt: „Sky ist nicht gut auf dich zu sprechen.“
„Oh ja. Das kann ich mir gut vorstellen“, sagte Steven begeistert, dann sanken seine Mundwinkel und verwandelten sich in einen grimmigen Ausdruck. „Und er wird noch weniger gut auf mich zu sprechen sein, wenn er erfährt, was ich zu berichten habe.“ Jetzt lachte er wieder „Hach, all diese unterdrückte Wut, herrlich.“ Seine Miene änderte sich in Besorgnis. „Aber du gefällst mir trotzdem nicht, nein, wirklich nicht, hm, so schwach.“
„Wo warst du?“, fragte Gibbli, um von sich abzulenken. „Du verheimlichst etwas.“
„Du auch“, gab Steven zurück.
Gibbli stützte sich erschöpft an einer Wand ab und schwieg. Sie spürte ihn nicht. Das war gut und schlecht zugleich. Die Blockade wirkte noch immer in der Stadt.
„Komm schon, Mädchen. Lass uns zu den anderen gehen. Dieses Herumgerenne nervt. Und währenddessen erzähle mir, was los ist, abgesehen davon, dass du dürrer aussiehst.“
„Ich bin dünner geworden?“, fragte sie erstaunt. Also half das Laufen doch? Es war ihr noch gar nicht aufgefallen. Gibbli nahm sich vor, noch weniger zu essen.
„Du hast Energie verloren. Das ist nicht gut“, sagte er, als sie sich auf den Weg zur Mara machten.
Musste er sich immer überall einmischen? „Wie seid ihr eigentlich hier hergekommen?“, fragte sie, um ihn auf ein anderes Thema zu bringen. Sie hatte sich schon immer gefragt, wie es möglich war, so eine große Strecke zu bewältigen.
„Hier runter? Na, wir haben die Stadt erbaut. Nun, ich nicht, ich habe lediglich einige Verbesserungen vorgenommen, denn ich kam später, durch das Portal.“
„Ich meinte die Oceaner von eurem Planeten zu unserem, hierher.“
„Sie haben Technologien entwickelt, um den Raum zu krümmen. Die Strecke ihrer Reisen verkürzte sich dadurch erheblich. Natürlich reicht das alleine nicht aus. Seit wann interessiert dich das Mädchen, du willst mir doch sonst nie zuhören?“
„Jetzt interessiert es mich eben.“ Vor allem, wenn das andere Thema darum gehen würde, über ihren aktuellen Zustand zu sprechen. „Haben sie die Zeit auch gekrümmt?“
Steven betrachtete sie für einen Moment. Er wäre dabei fast gegen eine Wand gelaufen, dann ging er zögernd auf ihre Frage ein. „Das funktioniert so nicht. Nicht mit einem materiellen Körper. Wenn du ihn verlässt und die Zeit entlanggehst, das könnten wir, dann würden wir ihn zurücklassen und sterben. Du nimmst den Verlauf der Zeit wahr, weil du einen Körper hast.“
„Das verstehe ich nicht. Also muss man die materielle Form ja doch verlassen“, folgerte Gibbli.
„Das überrascht mich nicht, du bist ja auch nicht annähernd so schlau wie ich und wenn du noch dünner wirst, wirst du deinen Körper eher verlassen, als dir lieb ist, Mädchen.“
Ihr Blick verdüsterte sich. „Du lenkst ab.“
„Ich lenke ab von deiner Ablenkung?“
„Ich bin dumm und du nicht. Zufrieden? Erklärst du es mir jetzt?“
Steven grinste. „Na gut, Mädchen, weil du so nett bist. Eine Zeitkrümmung wäre durchaus möglich, jede Ebene kann gebeugt werden. Aber nur wenn man in ihr lebt und die entsprechenden Technologien dafür entwickelt. Und dann muss man sie verlassen, um es zu ermöglichen. Von außerhalb, du verstehst? Aber du musst in der Lage sein, zurückzukehren. Und das sind wir nicht. Es wäre für uns also sinnlos, die Zeit zu krümmen, wir können sie nicht verlassen und zurückkehren, weil wir gar nicht erst in ihr drin sind. Wir nehmen nur den Rand ihrer Ebene wahr.“
Gibbli verstand. Die Oceaner fanden also andere Methoden für die fehlenden zwei Zeitdimensionen. „Wie habt ihr es dann gemacht?“
„Wie dir bereits aufgefallen sein dürfte, gibt es hier Energiefelder in der Stadt, die bewirken, dass man hier nicht altert. Das funktioniert mithilfe lebenden Willens gekoppelter Technologie, die sich in den Teil der von uns begehbaren Zeitebene einhakt, sich festkrallt. Der umgebende Fortschritt selbst wird dabei nicht berührt.“
Also hatten die Oceaner diese Felder verwendet, um ihr Leben zu verlängern und um am Ende der Reise noch zu leben, wenn sie lange Strecken zurücklegten. Die beiden stiegen ein Stockwerk tiefer. Gibbli kannte Djegos Plan der Wachen auswendig. Bis zur Mara hatten sie mit einem kleinen Umweg um diese Zeit freie Bahn. Vielleicht konnte sie sich diesen Plan zunutze machen, um in Jacks Lager hinabzuschleichen. Sofort verwarf sie den Gedanken. Hier oben mochte es Lücken geben, aber dort unten waren die Soldaten rund um die Uhr unterwegs. Immer und überall. Es gab keine Möglichkeit, unentdeckt zu bleiben.
„Weißt du was, Mädchen? Ich weiß es! Oh ja“, plapperte Steven munter weiter. Er klang dabei so übertrieben, als würde er von einer epischen Schlacht berichten. „Hier auf eurem Planeten gibt es Geschöpfe, die in der Lage sein könnten, unsere Grenze der Zeitebene zu überschreiten. Geschöpfe, die vielleicht sogar zum Teil hinein leben könnten. Gib den Tiefseemenschen ein paar Generationen und ihre Eigenfrequenz wird sich so weit verschieben, dass Zeit für sie begehbar wird wie für uns Raum. Die Landmensch-Tiefsee-Hybriden scheinen besonders sensibel dafür zu sein.“ Seine Stimme wurde trauriger. „Wäre schön gewesen, das mitzuerleben. Einer der Gründe, warum ich hier auf eurem Planeten bleiben wollte. Hach, so ein-“
„Warte“, unterbrach sie ihn. „Was meinst du mit, wäre schön gewesen?“
„Nun, wir sterben.“
„Das behauptest du ständig. Warum?“, fragte Gibbli missmutig.
„Das ist eine der Fragen, die du nicht stellen sollst.“
„Aha. Und warum nicht?“
„Im Gegenzug dafür, dass ich dir auch keine Fragen mehr stelle, die du nicht beantworten willst?“
Gibbli nickte. „Hm. Okay.“
Sie überquerten die Überführung, die in den Felsen hinein zur Andockstelle führte. Von der Stadt aus war das Energiefeld des Sichtfensters getarnt, welches sich zwischen dem mit Luft gefüllten Hohlraum Oceas und dem Wasser befand.
„Ja, schweig mich tot. Darin bist du unschlagbar“, sagte Steven nach einer Weile. „Willst du jetzt plötzlich nichts mehr von meinem überragenden Wissen abhaben, wo ich dich nicht mehr ausfrage?“
Gibbli ging genervt neben ihm her. Endlich neigte sich der letzte Gang dem Ende zu. Sie erreichten die Schleuse zur Mara. Der Oceaner drehte das Rad, um den Eingang hinter ihnen zu schließen. Gibbli wollte auf der anderen Seite gerade ein Signal schicken, damit jemand das Tor zum U-Boot öffnete, doch Steven hielt ihren Arm fest und schüttelte den Kopf.
„Warte, Mädchen“ Er nahm seine schillernde Tasche ab. „Keine gute Idee, das dem Kapitän zu zeigen, oh nein. Er würde vor unterdrückter Wut viereckige Purzelbäume schlagen. Hm, das wäre sogar lustig. Egal. Öffne es dennoch lieber nicht vor seinem Gesicht.“ Steven holte aus dem fischhautartigen Material eine Box hervor und überreichte sie Gibbli.
Das Ding war schwer und nicht ganz so lang wie ein Taucherhelm. „Ist das …?“ Mit geweiteten Augen starrte sie es an.
„Die konservierte Hand eines Soldaten. Vor einer Stunde frisch abgehackt. Natürlich nur für dich, Mädchen. Bilde dir bloß nicht ein, dass ich das für dein dämliches Menschlein mache!“
Gibbli strahlte. Steven hatte die Aufgabe tatsächlich gelöst! Sie würde die Finger endlich bauen können! Natürlich erst, nachdem das Problem mit dem Schutzschild beseitigt war. Schnell steckte sie die Box in ihre Werkzeugtasche. Plötzlich hämmerte es hinter ihnen gegen die Scheibe. Dort draußen stand Djego! Er schrie, doch durch die schalldichte Schleuse drang kein Laut. Der Oceaner legte den Kopf schief und blickte ihn abschätzend an. Nervös trat Gibbli einen Schritt auf den Schleusendurchgang zu und schüttelte den Kopf. Sky wollte nicht, dass Fremde ohne sein Beisein das U-Boot betraten. Djego sagte irgendetwas und blickte sie mit diesen unglaublichen Augen an. Dann grinste er und Gibbli versank in seinem Lächeln. Warum musste er das nur immer machen? Sie spürte Stevens interessierten Blick auf sich und wollte sich umdrehen. Doch Djego hämmerte wieder gegen die Scheibe der Luke. Jetzt hob er sein EAG. „Nachricht für Kapitän“, stand darauf. Gibbli konnte sich denken, worum es ging. Bei jeder sich bietenden Gelegenheit überbrachte Djego die Nachricht von Jack, dass er Sky treffen und mit ihm verhandeln wollte. Doch der Kapitän hatte sich bisher geweigert, darauf einzugehen. Gibbli überlegte. Es gab mehrere Möglichkeiten, die Mara zu öffnen. Zum einen von innen. Dann mit der Karte, die Bo jetzt bei sich trug, das runde Metallstück aus dem Archiv der Akademie. Und natürlich konnte Steven jederzeit mit seinem Frequenzverschieber durch die Wände hindurchlaufen. Das bedeutete, sie müssten nicht einmal warten, bis Sky oder Samantha ihr Signal bemerkten. Gibbli zögerte, dann fuhr sie herum, als sich plötzlich die Innenschleuse der Mara hinter ihr öffnete. Aufrecht und mit festen Schritten trat der Kapitän durch die Luke aus der Mara heraus. Sofort nahm er die ganze Schleuse für sich ein. Alle wichen vor ihm zurück, sogar Steven. Samantha war ihm gefolgt, leise, fast unscheinbar. Sie wirkte etwas verschlafen.
„Folgt mir“, befahl Sky mit emotionsloser Stimme. Sein missmutiger Blick streifte Djego auf der anderen Seite. „Alle.“

 

„Hallo Vielleichtfreundin“, raunte ihr der junge Soldat zu, als sie die Schleuse verließen.
Gibbli schwieg und sie gingen hinter dem Kapitän her, der sie weiter nach oben in die Stadt führte. Samantha schien mehr zu schwanken. Sofort war Djego zur Stelle und bot ihr einen Arm an. Gibbli ließ sich ein Stück zurückfallen und beobachtete die beiden.
„Das ist interessant“, flüsterte Steven neben ihr, sodass nur Gibbli es hören konnte.
„Was?“, fragte sie zurück, in Gedanken noch immer bei Djego. Sie wünschte sich fast, er würde neben ihr hergehen, statt dort vorne neben Samantha.
„Dieser Blick des Lockenkopfes und wie du ihn erwiderst, Mädchen“, sagte der Oceaner leise. „Abyss wird das nicht gefallen. Nein, das wird es ganz und gar nicht. Oh, das ist lustig.“
Gibbli stellte sich vor, wie sie Stevens Mund mit dem Schweißgerät versiegelte.
„Als würde sich die Geschichte wiederholen. Jeff und Rod und Mara.“
Sie hatte keine Lust, ihm zuzuhören. An Rod wollte sie auf keinen Fall denken. Gibbli musste Steven beschäftigen, bevor er wieder mit unbequemen Themen anfing. „Du redest ständig von Ebenen. Was bedeutet das, was sind diese Ebenen?“, fragte sie.
„Finde es heraus, Mädchen.“
Konnte er nicht einmal seine dummen Spielchen lassen? „Wie?“
„Stell mir die richtigen Fragen.“
Gibbli schnaubte. „Und welche?“
Kaum war dieses goldene Monster zurück, ging er ihr wieder auf die Nerven. Aber er würde antworten. Dafür war er ein zu großer Angeber, als dass er es einfach gut sein lassen konnte.
„Du könntest den hinreißenden Steven fragen, auf was der größte Teil oceanischer Technologie beruht, Mädchen.“
„Das weiß ich längst. Elektromagnetische Felder. Du hast sie einmal als die Verbindungsebene bezeichnet.“
„Oh. Du merkst dir tatsächlich, was ich sage? Ah, das erfüllt mich mit Freude! Elektromagnetische Wechselwirkung. Ja, die Verbindung zwischen Raum, Zeit und Gravitation. Und wie entsteht sie?“
„Strahlung.“
„Aus was besteht elektromagnetische Strahlung?“
Gibbli zuckte mit den Schultern. „Photonen?“
„Möglich, wenn ihr es so bezeichnet. Manchmal kann man diese Photonen sehen, nicht wahr?“
„Aber Photonen sind keine Teilchen.“
„Nein, natürlich nicht, es ist nicht stofflich. Dennoch siehst du es, oh ja. Nicht nur das, du nimmst es nicht wahr, wie die anderen Menschen deiner Art das tun. Du siehst es wie ein Oca. Du siehst nicht nur ihr begrenztes Spektrum und die Anwesenheit. Du spürst die Veränderungen darüber hinaus. Die Energie.“ Er spannte seine Finger an, erhob sie wie Krallen und tat so, als würde er während des Gehens etwas Unsichtbares in der Luft packen.
„Ich spüre ihre Frequenzen“, murmelte Gibbli und beobachtete Djego, der Samantha vor ihnen gerade eine Rampe hoch half.
„Ja! Du kannst sie beeinflussen, weil du zum Teil ein Oca bist. Die Oca leben nicht nur in den drei Raumebenen, sondern auch in der elektromagnetischen Zwischenebene.“
„Mit den Mog.“
„Richtig, Mädchen. Nur dass die Mog eine Ebene weiter leben, versetzt. Ihnen fehlt eine Raumebene, dafür leben sie zusätzlich in der Ebene, die wir als Materie wahrnehmen.“
Sie passierten eines der großen Kühlaggregate, die überall verteilt in der Stadt standen und unaufhörlich ihre eisige Luft verbreiteten. Steven hatte irgendwann erwähnt, dass man sie früher nicht brauchte, als sich noch mehr Bewohner in Ocea befanden. Doch mittlerweile wäre es ohne die Maschinen in dieser Tiefe unerträglich heiß.
„Was passiert, wenn man ein, du nanntest es Photonenstück, stoppt? Wenn man es anhält?“
„Es hört auf zu existieren.“ Gibbli verstand nicht, worauf er hinaus wollte.
„Nein. Nein, Mädchen. Du nimmst es nur nicht mehr wahr, innerhalb deines Bereichs. Fehlende Frequenz, die du nicht spürst oder mit der beschränkten Mathematik deiner Ebenen nicht beschreiben kannst, bedeutet nicht, dass sie nicht mehr existiert. Wenn du die Frequenzen mit Gedanken veränderst, um oceanische Technologie zu steuern, dann sieht es aus deiner Sicht so aus, als würden sie stoppen oder wie aus dem Nichts erschaffen werden. Doch das passiert nicht. Du nimmst oder übergibst sie lediglich an eine andere Ebene.“
„In welche?“ Gibbli dachte an die schleierhaften Leuchtwesen auf Oca. Sie bewegten sich im oder eher halb am Raum entlang. „Ich nehme nicht an, die Mog leben in so etwas wie einer Fläche, obwohl ihnen eine Raumebene fehlt?“
„Ja und nein. Aber jetzt stellst du die richtigen Fragen, Mädchen. Denk an die Kraft der Gravitation.“ Steven hob im Gehen einen Golddraht vom Boden auf und fing an, ihn zu zerfeckeln.
„Gravitation ist keine Kraft.“
„Natürlich nicht, das sind nur Worte deiner beschränkten Sprache. Ebenen, Dimensionen, Kräfte, wie immer du sie bezeichnest, es sind alles nur Vergleiche. Worauf ich hinaus möchte, es gibt keine fest begrenzten Ebenen, nur schleichende Übergänge. Die Frequenzen verändern sich nicht abgestuft. Du kannst eine Wellenlänge nicht stufenweise erhöhen, indem du einfach plus Eins rechnest.“
„Weil es unendlich viele Zahlen zwischen Eins und Null gibt“, murmelte Gibbli.
„Genau. Wie ein Kreis, eine Rampe, keine Treppen. Aber eigentlich ist es noch eine Ebenensicht zusätzlich. Das alles sind nur beschreibende Scheinbilder, um sie in deiner aktuell begrenzten Wahrnehmung vorstellbar zu machen. Nenne es, wie du willst. Doch Gravitation ist auch keine Ebene.“
„Als was nimmst du Gravitation wahr? Ich meine, als Mog?“
Steven verzog das Gesicht, als würden ihn ihre Worte anekeln. „Ich unterliege ihr, weil ich kein Mog mehr bin. Aus menschlicher und aus der Sicht der Oca ist es die in ihrem Weltstück spürbare Auswirkung einer anderen Ebene. Und diese Ebene ist deine Antwort.“
„Masse“, sagte Gibbli.
„Materie.“ Steven warf die Stücke des Golddrahtes durch die Luft. „Materie ist eine Ebene, die wir … ihr als stofflich wahrnehmt, ist für die Mog nichts anderes als eine weitere Ebene wie Länge oder Breite. Im Grunde lassen sich die Ebenen nicht einteilen. Sie sind eins. Wir nehmen sie nur als Stücke wahr, haben gelernt, sie zu unterteilen, um die Umgebung besser beschreiben zu können.“
„Darum also können die Mog alles Stoffliche ändern. Darum kannst du durch Räume gehen?“
„Da ich meine Physiologie veränderte, um mich den Oca anzugleichen, benötige ich technische Hilfsmittel, um das zu bewerkstelligen. Aber wäre ich nur ein Mog, dann ja, dann könnte ich das.“
„Also sind wir selbst nichts weiter als Teile, Hindernisse einer Ebene?“
„Du kommst den Tatsachen näher. Zu unserem Glück sind wir mehr als das. Du hast dich durch dein Leben lediglich einem Teil dieser Materie bemächtigt. Doch ja, wir stellen einen Verbund dar. Und diese Ebene, dieses Weltstück, schluckt die Frequenzen, mit der Veränderung auf dem elektromagnetischen Spektrum. Um ocanische Technologie zu steuern, greifst du, greifen die Oca in ihre Ebene der Existenz ein. Es ist, als würdest du plötzlich eine Mauer erschaffen oder den Boden unter deinen Füßen verschwinden lassen. Nur eben auf ihrer Ebene. Du veränderst damit ihren Lebensraum.“
Langsam begriff Gibbli, was die Oceaner mit ihrer Technologie unter den Mog anrichteten. Als Konsequenz waren die Mog nicht weniger grausam zu den Oceanern. Diese Leuchtwesen hatten ihr ganzes Volk beinahe vollkommen vernichtet. „Leben die Mog auch am Rand der Zeit?“
„Ja, Mädchen. Für sie liegen die Zeitebenen nur auf der anderen Seite ihres bekannten Lebensraums und es fällt ihnen schwerer, sie zu erfassen als uns.“
„Es gibt Reihenfolgen?“, fragte Gibbli, als sie die letzte Rampe hochstiegen, die zu den drei Häusern im obersten Stockwerk führte.
„Nicht direkt. Sie liegen nicht auf einer Linie, wenn du das meinst. Denk räumlich und weiter, umfassender.“
Gibbli nickte. „Wie weit gehen diese Ebenen? Wie viele gibt es? Ich meine, wie weit reichen die Frequenzbereiche und was ist jenseits von ihnen, von …?“
„… von weit weg und doch nicht örtlich gebunden und ganz nah, du verstehst es jetzt, Mädchen. Nach meiner Kenntnis gibt es kein Ende. Es gibt keinen Anfang. Unendlichkeit, in alle Richtungen.“
„Woher weißt du das?“ Sie hatte nicht erwartet, dass er auf diese Frage eine Antwort besaß.
„Als ich meine Frequenz von einem Mog zum Oca änderte, bekam ich Einblicke, wie nur wenige vor mir.“ Steven zögerte. „Ich kam während der Umwandlung mit Wesen in Kontakt, deren Daseinsform mehrere hundert Ebenen umfasst, inklusive der unseren.“
Der Gedanke, dass es eine derartige Lebensform gab, verursachte Gibbli eine Gänsehaut. Einige Meter vor ihnen öffnete der Kapitän die Luke zum obersten Stockwerk der Stadt.
„Frag nicht, was ich tun musste, damit sie mir den Übergang erlaubten, diese Geschichte ginge jetzt zu weit. Jede Spezies besitzt ihren Frequenzbereich, welcher verschieden definierte Ebenen umfasst, in denen sie lebt. Manche überschneiden sich, leben miteinander oder kommen sich in die Quere. Es gibt auch Lücken. Aber ein Großteil des Alls ist bewohnt.“
„So viel Leben“, murmelte Gibbli fasziniert. Und ihre beiden Spezies, die Oceaner und die Mog, hatten das Pech, von den unendlichen Möglichkeiten des Seins, gerade diese Frequenzbereiche zu treffen, die sie auf so unterschiedliche Weiße wahrnahmen, dass sie nicht miteinander klar kamen.

 

Sie setzten sich im obersten Stockwerk auf den zentralen Platz zwischen den zwei Häusern. Einzig Sky zog es vor, zu stehen. Er wirkte weder wütend noch erfreut über Stevens Erscheinen.
Mit verschränkten Armen forderte er den Oceaner auf, sich zu erklären: „Deinetwegen ist mein Plan mit den Tiefseemenschen gescheitert. Gib mir einen Grund, Abyss nicht zu rächen, außer, dass er es selbst tun wird, wenn er hier auftaucht.“
Steven grinste. „Ich gebe dir einen guten, Kapitän. Einen sehr guten. Nun, nein, gut ist er nicht.“ Steven schloss die Augen. „Und ich gebe ihn dir auch nicht. Außerdem“, Steven grinste, „habe ich ihm doch nichts getan, oder?“
„Ich bin mir sicher, du weißt, warum wir dieses Gespräch hier führen und nicht auf der Mara.“ Sky nickte zu dem Riss hinüber, der eines der drei Häuser am Platz unbegehbar machte. „Ich nehme an, dein Grund hat mit diesem Ding zu tun. Ich gehe jetzt dort hinein und werde herausfinden, was er zu bedeuten hat.“
„Nein!“ Steven sprang auf und stellte sich mit ausgestreckten Armen vor den Kapitän, um ihm den Weg abzuschneiden. „Du stirbst, wenn du das tust!“
„Dann sag mir, was hier los ist! Sofort!“
Steven zögerte. „Na gut, Kapitän.“ Er setzte sich auf den Boden vor den Riss. „Während unser blasser Freund die Tiefseemenschen aufsuchte, war ich in der Spionagebasis der Mog.“
„Die Mog haben hier eine Basis?“, fragte Gibbli erstaunt und beunruhigt zugleich.
„Wer sind die Mog?“, fragte Djego.
Sky kniff die Augen zusammen.
„Nun, dachtet ihr, ich käme allein? Die Mog sind ein Schwarmvolk. Ich war damals nicht der Einzige, der hier her kam. Aber die anderen wollten die Oca zusammen mit dieser Stadt zerstören. Ich musste sie aufhalten, oh ja, ihr versteht? Meine Mara, meine geliebte Mara, mein geliebter Jeff, wie konnte ich sie ihnen überlassen? Ich musste das tun!“
„Weiter“, befahl der Kapitän, als Steven innehielt und Gibbli traurig angrinste.
Sie schluckte, blickte kurz zu Djego, der ihr gegenüber saß, um dann schnell wieder wegzusehen, als sie bemerkte, dass er sie beobachtete. Steven hüpfte auf die Beine und fing an vor dem Riss hin und her zu gehen. Gibbli fiel auf, dass mittlerweile mehr von der Wand gelöste Bruchstücke darin schwebten als noch vor ein paar Tagen.
„Es war einmal vor sehr langer Zeit, an einem wunderschönen Tag …“ Er blieb stehen. „Hach, das erinnert mich an eure Märchen.“
„Kannst du nicht einfach normal erzählen, um was es geht?“, fragte Samantha müde. Sie lehnte an einer Kiste neben Gibbli.
„Ihr wollt die kalte, seelenlose Geschichte hören? Nun gut. Es existiert eine Schutzvorrichtung, eine Maschine. Meine Maschine. Mein Meisterwerk. Ich mochte die Oca zu sehr, als dass ich sie vernichten konnte. Also vernichtete ich stattdessen die anderen Spione. Meine Brüder. Die Mog, die mit mir hier her kamen. Und ich baute die Maschine. Ein Mechanismus, der mein Volk daran hindern sollte, die Oca auf diesem Planeten zu zerstören. Ein Mechanismus, der bewirkte, dass die Mog sie hier ein für alle Mal zufriedenlassen mussten und nie wieder hier her kommen würden.“
„Das ist doch gut, oder?“, fragte Gibbli leise.
„Nein, nein nein. Nein, Mädchen. Du verstehst nicht! Ihr seid unwissend.“
„Diese Beben sind deine Schuld“, stellte Sky ruhig fest und betrachtete die Öffnung der Dimension hinter ihm. „Deine Maschine verursacht diese Risse.“
Steven zögerte, dann nickte er seufzend. „Ja. Meine. Mein Versuch, Leben zu retten, wird es vernichten.“ Er schüttelte langsam den Kopf. „Kapitän, es war die einzige Waffe, die gegen Mog hilft. Ich errichtete meine Maschine in ihrer ehemaligen Basis und ließ ihnen durch das Portal eine Nachricht über ihre Funktionsweise zukommen. Das, was gerade passiert, sollte nie passieren!“
„Eine Waffe soll helfen, Leben zu retten? Die Mog schätzen das Leben“, sagte Sky. „Ich habe mit ihnen verhandelt. Sie ehren es.“
Steven lachte. „Genau das brachte mich auf die Idee. Sie schätzen es nicht nur, sie lieben das Leben. Jedenfalls solange es ihnen nicht in die Quere kommt.“
„Erkläre das“, verlangte der Kapitän.
„Meine Maschine brachte die Mog dazu, keine Spione mehr hier her zu schicken. Leider zog ihr Krieg die Oca zurück in ihre Heimat, wovon ich verzweifelt versuchte, sie abzuhalten“, fügte er theatralisch hinzu, „aber sie sind so stur, die Oca. Hier wären sie sicher gewesen! Meine Freunde, meine geliebten-“
„Komm zum Punkt!“, knurrte Sky genervt.
Steven verstummte und stellte sich direkt vor den Kapitän. Furchtlos starrte er ihn an. „Meine Maschine scannt einen Teil dieses Planeten. Diese Stadt, Ocea, die Akademie über uns, die Hauptstadt Mooks und einige weitere Unterwasserstädte in der näheren Umgebung. Sie sucht nach lebender DNA der Oca, nach den elektromagnetischen Wellen, welche von ihnen ausgestrahlt werden. Registriert die Maschine sie, passiert gar nichts. Doch sollte ihre DNA jemals von diesem Planeten verschwinden, wird der Mechanismus ausgelöst. Die Mog verachten Zerstörung. Doch genau das macht dieser Mechanismus. Er zerstört. Die Oca hingegen werden angezogen von Gewalt, Kampf und Schmerzen. Ich liebte ihre Art, so aufregend, so neu, so ungewohnt. Darum baute ich diesen Schutz. Die Mog waren nicht mehr im Stande, die hier lebende Oca Kolonie zu vernichten. Denn damit hätten sie mit ihnen Milliarden Tiere ebenfalls ausgelöscht, das heißt auch alle Völker der Menschen. Das sollte sie für immer fernhalten. Aber genau das passiert jetzt. Diese Maschine wird den gesamten Planeten vernichten. Die Maschine wurde ausgelöst.“
Stille breitete sich um sie herum aus. Gibbli blickte Steven fassungslos an. Sky runzelte die Stirn.
„Warum hast du sie nicht abgeschaltet?“, fragte Samantha.
„Ich war dort, denkst du nicht, ich hätte es getan, wenn ich es gekonnt hätte? Die Maschine lässt sich nicht so einfach abschalten!“
„Nein“, sagte Sky ruhig.
„Es gibt absolut nichts, was wir dagegen tun könnten, Kapitän. Ich sicherte das Überleben der Oca, die ich liebte. Und jetzt wird dieser Schutz euer Verderben sein. Dein Plan, die Menschen zu einen, ist hinfällig. Sinnlos.“
„Das kann nicht sein“, wiederholte Sky. „Du sprachst von oceanischer DNA. Und diese ist hier.“
„Sie war hier“, berichtigte Steven ihn. „Nachdem Mara starb, hat Jeff lange gezögert, bis er sich überwand zu gehen. Er fürchtete, dass Coras Geist nicht ausreichen würde. Doch letztendlich verschwand er durch das Portal.“
„Also reichte Cora aus“, sagte der Kapitän.
„Oh nein, das dachte ich eine Weile auch. Aber es war nicht Cora. Nicht sie allein. Es war das Kind von Mara, Rod und Jeff, von dem er nichts wusste.“ Steven wandte sich zu Gibbli um. „Es war die Anwesenheit deiner Vorfahren Mädchen, die den Mechanismus stoppten. Doch außerhalb der Stadt altert auch mein Volk. Dieses Kind ist längst gestorben. Und du bist kein ganzer Oca. Dein Menschenvater war es zur Hälfte. Mein Anteil zählt vermutlich. Das reichte aus, mit Cora und mir zusammen. Doch Jack ließ deinen Vater hinrichten und du warst weg, so wie ich. Wir beide gingen durch das Portal. Offensichtlich reichte das nicht mehr aus. Kein ganzer Oca mehr da. Die Maschine wurde in Gang gesetzt.“
„Also hat Abyss es doch richtig verstanden. Darum ließen sie uns einfach gehen. Die Mog wussten es. Die Mog dachten, dieser Planet sei längst zerstört. Die Mog dachten, wenn wir durch das Portal gehen, landen wir im Nichts.“
„Ja, Kapitän.“
„Aber er wurde nicht zerstört. Und jetzt ist sie wieder da. Gibbli ist wieder da“, sagte Sky nachdrücklich. „Und du bist wieder da.“
„Ja, umgeben von … was auch immer alle elektromagnetischen Strahlen hier blockiert. Die Maschine dringt nicht mehr durch. Sie registriert weder mich noch mein Mädchen. Und Cora ist abgeschaltet. Ich … ihr Geist … ihre Seele vielleicht für immer verloren“, flüsterte der Oceaner. Eine Träne rann über seine goldenen Wangen. „Meine kleine Cora. Meine Cora …“
Djego schien plötzlich unruhig zu werden.
„Aber es passiert nicht sofort“, stellte Sky fest. „Deine Maschine löst nur einzelne Beben aus. Warum?“
Steven schüttelte den Kopf. „Ich vermute, zum Teil, eben weil sie hier nicht durchdringt. Die Maschine zögert es selbst hinaus, vielleicht hat sie doch irgendwo Reste aufgeschnappt oder drang für einen Moment durch, ich brauche Zeit für Berechnungen, ich …“
„Was hast du?“, fragte Gibbli an Djego gewandt und alle Blicke wandten sich ihm zu.
„Störsender.“ Er hob den Kopf. „Jack hat Störsender entwickelt, die oceanische Technologie unterbinden sollten. Darum funktioniert hier nichts. Ich … ich hätte es früher erwähnt, aber ich wusste nicht, dass es wichtig ist.“ Djego zuckte mit den Schultern.
„Er muss sie abschalten“, verlangte Sky. „Sofort!“
Der junge Soldat sprang auf, als wäre er froh, von ihnen wegzudürfen. „Ich richte es ihm aus. Aber Kapitän, wenn ihr endlich miteinander reden würdet-“
„Nein.“
„Ich verstehe das nicht, warum? Er will verhandeln! Er-“
„Das will er nicht. Das ist lediglich ein Vorwand. Jack will diskutieren des Diskutierens Willen, aber eine Verhandlung kommt für ihn niemals in Frage. Er will etwas anderes, was er nur über meine Leiche bekommen wird. Geh jetzt!“

 

„Krank“, sagte Samantha, als er gegangen war. „Glaubst du, es hilft?“
Gibbli blickte ihm gedankenverloren nach und zuckte mit den Schultern. Sie hatte keine Ahnung. Vor allem war nicht einmal klar, ob Jack die Störsender auch wirklich abschalten würde. Sie beobachtete Steven, der leise auf Sky einsprach. Dieser Oceaner war ein verdammtes Genie. Dass er Wissen über diese Art von Mechanismus besaß, war klar. Doch daraus so etwas faszinierendes zu bauen, das hätte sie ihm nicht zugetraut.
„Sam, begleite Steven zurück auf die Mara“, befahl Sky plötzlich.
Gibbli stand auf, doch der Kapitän bedeutete ihr zu warten. „Steven bringt Cora auf die Mara. Er versucht, sie wieder in Gang zu bekommen. Vielleicht funktioniert es dort. Das U-Boot scheint gegen Jacks Störsender abgeschirmt zu sein.“
War abgeschirmt, dachte Gibbli düster.
Sky blickte Samantha nach, die Steven zum Haus folgte, wo er Cora mühelos hochhob. „Ist dir etwas an ihr aufgefallen?“
„An Sam?“, fragte Gibbli.
„Ja. Sie scheint krank zu sein. Sam ist fast durchgehend müde, was verständlich ist. Das einzige, was sie noch macht, ist essen und schlafen. Es geht mich nichts an, aber ich glaube, sie kommt damit nicht klar. Ich sprach sie mehrmals darauf an, aber sie will auch nicht mit mir darüber reden. Sie sollte besser in einer Heilanstalt untergebracht werden, aber das geht ja nicht.“
Was sollte sie denn dort? Allerdings hatte Gibbli auch bemerkt, dass die junge Frau irgendwie verändert wirkte. Vielleicht weil sie ihren Freund vermisste. „Ich denke, sie wartet auf Nox.“
Sky zwirbelte nachdenklich seinen Bart zusammen. „Ja. Er und Bo sollten längst zurück sein. Sag mir, was du darüber weißt.“
„Nichts.“ Samantha wollte nicht, dass der Kapitän erfuhr, dass Nox nicht nur wie befohlen die Hochseemenschen aufsuchte.
Er nickte. „Na schön.“ Sky trat näher an sie heran. „Und bei dir? Ist alles okay, Gibbli?“
Verwirrt blickte sie zum Kapitän auf. Das war eine seltsame Frage aus seinem Mund.
„Du isst wenig. Und das geht mich sehr wohl etwas an. Sogar Steven hat mich eben darauf angesprochen. Natürlich drückte er es wie immer etwas übertrieben aus. Er meinte, du siehst, wie nenne ich es ohne seine Worte zu benutzen … hm, schwach aus. Jetzt, wo er es sagte, er hat recht. Ich habe nicht bemerkt, wie du dich langsam veränderst, weil ich durchgehend hier war.“
Gibbli zuckte mit den Schultern. Jetzt fing er auch noch damit an. Jetzt, wo sie endlich dünner wurde, jetzt wo sie möglicherweise vielleicht sogar irgendwann einmal auch nur annähernd zu einer ansehbaren Form kommen konnte.
„Erzähl mir, was los ist.“
„Nichts“, sagte Gibbli schnell.
„Ich mag dieses Wort nicht, Gibbli.“
„Es ist … nichts.“
Sky stieß laut die Luft aus. „Übertreibe es nicht mit dem Laufen.“ Er wandte sich von ihr ab und folgte Steven und Samantha nach unten.
Erleichtert atmete Gibbli auf. Wenigstens ließ er sie in Ruhe. Sie war sich sicher, dass Abyss nicht so leicht nachgegeben hätte, er hätte alles aus ihr herausgequetscht. Darüber, warum sie so viel trainierte, so wenig aß, einfach alles, was sie dachte und ihre Gedanken verstopfte. Und über den Schutzschild, dass es ihre Schuld war. Dass sie zu nichts nutze war und alles falsch machte. Gibbli lockerte ihre Fäuste, als sie bemerkte, wie ihre Fingernägel in ihre Haut stachen.

 

Die Plattform Oceas schien weitaus besser für den Bau der Maschinenhand geeignet zu sein, als die Mara. Gibbli hatte alle Teile zum ausgeschalteten Portal hochgeschleppt. Ein paar Funken würden hier nichts kurzschließen können. Wie auch, es lief ja nichts mehr. Außerdem konnte sie hier oben konzentriert an den Fingern schrauben und die Nervenfasern der abgetrennten Hand einarbeiten, ohne dass der Kapitän bemerkte, was sie tat. Es fehlten nur noch ein paar Golddrähte und die gab es hier tatsächlich an jeder Ecke. Gibbli befand sich gerade im 28. Stockwerk, drei Etagen unter der Plattform. Dort hatte sie einen Raum mit vielen Bauteilen entdeckt, die gut zu gebrauchen waren. Sie steckte einige davon ein und trat hinaus in den Gang. Der Eingang gegenüber erregte ihre Aufmerksamkeit. Ein Torbogen leuchtete auf, als sie hindurch schritt. Warum reagierte er? Unheimliches Rauschen durchdrang den Raum. Er war rund angelegt mit einem Durchmesser von etwa fünf Metern. Langsam trat Gibbli direkt in die Mitte. Irgendwie fühlte es sich komisch an, hier zu stehen. Ein machtvolles Kribbeln ergriff von ihr Besitz. Über ihr blitzten goldene Lämpchen auf. Das war seltsam, bekamen sie plötzlich Energie? Fast hätte sie aufgeschrien, als ein durchdringendes Dröhnen ihr durch Mark und Beine fuhr. Das Geräusch ähnelte einem tiefen Donnerschlag, wie sie es auf dem Planeten der Mog erlebt hatte. Nur etwas kürzer. Unter ihren Stiefeln begann sich etwas zu bewegen. Es klang wie aufeinander reibendes Metall, das sich alle zwei bis drei Sekunden wiederholte. Gibbli wischte ein paar Sonnenstücke beiseite und ging auf die Knie. Zwischen dem Bodengitter hindurch konnte sie ein riesiges Rad erkennen, welches den gesamten Raum ausfüllte. Es hatte angefangen, sich zu drehen! Täuschte sie sich, oder begann die Luft um sie herum dichter zu werden? Das ungute Gefühl, plötzlich im Inneren eines gigantischen Motors zu stehen, breitete sich in ihr aus. Gibbli spürte, wie ihr Körper ein paar Zentimeter vom Boden abhob. Der Sauerstoff wandelte sich! In Wasser! Sie würde gleich ersticken! Gibbli hielt die Luft an. In ihren Gedanken schrie sie!

 

In rasendem Tempo zog sich das Wasser durch ihre Kiemen. Sie war allein. Das runde Amulett an ihrer Brust drehte sich. Es leuchtete orange auf und heilte die Wunden durch ihre eigene Kraft. Bo bemühte sich, die Schmerzen an ihren Beinen zu ignorieren. Die Kratzer der spitzen Krallen, denen sie gerade entkommen war, zogen sich quer über die bläulichen Schuppen ihrer Haut. Erschöpft schlängelte sie sich am Rand der vielen Felserhebungen entlang. In diesen Steinen befanden sich einige Behausungen der Hochseemenschen. Hätte sie auf Nox hören sollen? Ihm folgen sollen? Nein, sie führte Skys Befehl aus! Der Kapitän hatte Vorrang. Sie musste zurück und es noch einmal versuchen. Das Marahang drehte sich schneller und die Wunden begannen zu heilen. Um ihren Halbbruder konnte sie sich später kümmern.

 

Gibbli schlug die Augen auf. Verdammt, so etwas war ihr eine ganze Weile nicht mehr passiert, das letzte Mal in der Meeresgondel. Sie hatte die Kontrolle verloren und war wieder dem Marahang gefolgt, Maras DNA, in Bo’s Körper, wenn auch nur kurz. Moment, was war das? Nein! Sie befand sich ja noch immer im Wasser! Ihre Finger wanden sich um ihren Hals. Das waren ihre eigenen Finger, nicht die von Bo! Gibbli würgte und die Luft entwich ihren Lungen. Panisch strampelte sie mit den Beinen. Kurz verschwamm die Sicht vor ihren Augen. Die Umgebung war vollkommen ausgefüllt mit Wasser. Dann erblickte sie die Gestalt. Dort, ganz oben in der kuppelförmigen Decke des Raumes trieb er dahin. Oh nein! Nein, nein, nein, nein! Mit aufgerissenen Augen schwamm sie auf ihn zu. Doch Gibbli kam kein Stück vorwärts. Sie musste ihn erreichen! Mit aller Kraft wollte sie sich vom Boden abstoßen, doch ihre Füße berührten ihn nicht mehr. Es war, als hielte irgendetwas sie auf der Stelle fest. Langsam wurde ihr schwindlig. Verzweifelt versuchte sie, den Drang einzuatmen abzuwehren. Wenn sie das tat, würde sich ihre Lunge mit Wasser füllen! Das durfte nicht passieren! Nicht bevor sie ihn erreichte! Gibbli spürte, wie ihr die Kontrolle über das Bewusstsein immer mehr entglitt. Alles vor ihr verdunkelte sich. Das Wasser um sie herum verlor jegliche Bedeutung. Er starb! Er war tot! Sie wollte ertrinken.
Sie fiel mit Knien und Ellbogen voran auf den Gitterboden. Der Schmerz des Aufpralls jagte durch ihren Körper. Hustend spürte Gibbli die eiskalten Finger an ihren Schultern. Langsam hob sie den Kopf und starrte in sein goldenes Gesicht. Er hatte seine Macht wieder erlangt. Seine Kälte schoss durch jede Zelle ihres Körpers und ihr Blut schien zu gefrieren.
Völlig erschöpft starrte Gibbli Steven an. „Wo bin ich?“
Er richtete sie auf, sodass sie auf ihren Knien zum Sitzen kam. „Eine nette Vorrichtung, nicht wahr? Du bist noch immer in Ocea. Das hier ist ein Gedankenraum. Eine meiner genialsten Erfindungen.“
Gibbli rang nach Luft und frischer Sauerstoff strömte durch ihre schmerzende Lunge. Sie krallte sich an ihrem Pullover fest. Ihre Kleidung war völlig trocken. „Wo … ist das Wasser? Habe ich es mir … eingebildet?“
„Wasser also. Interessant“, drang seine helle Stimme durch den runden Raum. „Nein, für dich war das durchaus echt. Das hier sind keine Hologramme, Mädchen. Es passiert in den Gedanken deiner Realität. Ein Stück Mog-Technologie, vermischt mit der Physik der Oca. Erstaunlich, was sie zusammen bewirken hätten können. Ich habe an ihm mit gebaut, durch mein Wissen konnte dieser Trainingsraum erst entstehen. Nach außen hin ist er komplett abgeschirmt, damit sie ungestört sind. Keine Beeinflussung, du verstehst? Oh ja, die Oca liebten ihn, auch wenn viele von ihnen diesen Raum nicht überlebten. Sie mussten von vorne beginnen. Hey, Fall mir nicht um, Mädchen.“
Gibbli war nach vorne geschwankt. Noch immer außer Atem blickte sie zur Decke hinauf. Der leblose Körper war verschwunden. Ebenso wie das Wasser. Völlig am Ende bemühte sie sich zu beruhigen. Steven war ihr egal. Sie wollte hier nur noch raus. Als sie sich hochdrücken wollte, schoss ein fürchterliches Stechen durch ihre Beine. Ihre aufgeschlagenen Knie wollten sie nicht mehr tragen.
Der Oceaner hielt sie fest und plapperte munter weiter. „Das Wasser um dich herum war nicht echt. Jedenfalls für andere. Alles hier drin ist echt und ist es nicht. Dieser Raum formt es in deinem Kopf. Beeinflusste Materie über den Geist, eine geniale Idee, findest du nicht? Nur für dich war es echt. Wir sollten uns öfter hier treffen, meinst du nicht auch? Ja, das sollten wir. Spürst du sie, die Kälte? Spürst du mich?“
„Steven?“, fragte Gibbli mit hoher Stimme. Sich von ihm helfen zu lassen war gerade das letzte, was sie tun wollte, aber ihr blieb nichts anderes übrig. Sie zitterte noch immer am ganzen Körper und seine Kälte machte es nicht besser.
„Ja, mein Schatz?“
„Bring mich hier raus. Bitte.“ Gibbli schloss die Augen und versuchte, die Bilder in ihrem Kopf zu verdrängen.
Irgendwann spürte sie, wie er sie hochhob und nach draußen trug.

 

Es dauerte eine Weile, bis sie wieder klar sehen konnte. Steven sprang um sie herum im obersten Stockwerk Oceas und sammelte ein paar Dinge vom Boden auf. Gibbli lehnte an einer Maschine am zentralen Platz zwischen den drei Häusern. Sie spürte seine Kälte nicht mehr. In ihren Gedanken brannte sich fest ein rotes Kreuz auf den Erinnerungen an diesen schrecklichen Gedankenraum ein. Dieser Ort gehörte verboten. Gibbli würde nie wieder dort hinein gehen!
„Was passiert mit mir?“ Sie verstand es nicht. Was stellte dieser riesige, blasse Kerl nur mit ihr an? „Ich zerreiße“, hörte sie sich leise murmeln.
„Du solltest mehr Energie zu dir nehmen. Nicht, dass ich etwas dagegen hätte, dich herum zu tragen, ich bin der stärkste, oh ja.“ Steven wandte sich von ihr ab. In seinen Armen trug er mittlerweile einen großen Haufen Schrott. Gibbli fragte gar nicht erst, was er damit vor hatte.
„Ich breche auseinander.“ Es fühlte sich an, als hätte Abyss eine dieser Festluftbomben in sie hineingestopft und explodieren lassen. Wenn Sky sie jetzt hinaus schicken würde ins Wasser, sie hätte nichts dagegen zu ertrinken, damit dieses Gefühl endlich aufhörte. Gibbli wollte nur noch rennen, doch wusste nicht wohin. „Ich kann mich nirgendwo mehr festhalten. Ich falle.“
„In einen blassen Abgrund“, flüsterte der Oceaner nach einer Weile und warf den Schrott in seinen Armen auf einen größeren Haufen direkt vor dem Riss.
„Ja. Nein. Nein.“ Sie wollte fallen, in diesen Abgrund. Aber sie fiel nicht. Niemand schubste sie und einfach hinein springen, das traute sie sich nicht. Es ging auch gar nicht. Er war nicht da.
„Ja, nein nein? Du hattest keine Angst vor dem Wasser, nicht wahr, Mädchen? Nein, das hattest du nicht.“ Er nahm ein langes Rohr von dem Haufen und warf es in den Riss hinein.
Sie blickte auf, antwortete ihm jedoch nicht.
„Dieser Raum existiert, um zu lernen, mit Dingen zurechtzukommen. Er lässt die größte Angst eines Wesens Realität werden.“
Wieder warf er ein paar Dinge hinein. Gibbli starrte geradeaus, an ihm vorbei auf das flimmernde Nichts, wo sich ihre Beschaffenheit zusehends veränderte.
„Du hast ihn gesehen“, flüsterte Steven und drehte sich zu ihr um.
Sie blickte zu Boden. „Ich konnte nichts tun“, sagte Gibbli leise und sie spürte, wie ihr die Kontrolle erneut entglitt. „Er ist … er trieb im Wasser und hat die Augen nicht mehr geöffnet. Ich konnte ihn nicht erreichen, ihm nicht helfen. Sie waren zu. Das Wasser hielt mich davon ab, ich bekam keine Luft mehr. Sein Mund stand offen und ich konnte ihn nicht erreichen! Steven, er hat sie nicht mehr aufgemacht!“ Weinend schnappte sie nach Luft. „Seine Haut war weiß. Ich konnte seine Augen nicht mehr sehen. Seine grauen Augen. Er ist … ertrunken.“ Verzweifelt biss sie die Zähne aufeinander.
Steven starrte sie emotionslos an. „Schön zu wissen, wie man dich zum Reden bringt, Mädchen. Du weißt, dass er das nicht war. Das war der Raum, die gespielte Realität nach deinen Gedanken.“ Er hielt kurz inne, dann fügte er hinzu: „Deine größte Angst.“
Langsam dämmerte es ihr, dass Abyss lebte. Er war nicht hier. Er war in Sicherheit, in der Unterkunft des Mönchs. Sie wünschte sich so sehr, er würde endlich zurückkehren. Sie wischte mit dem Ärmel über ihr Gesicht. Ohne seine zuversichtlichen Worte erschien jedes Problem gleich drei Mal so groß.
„Das ist so schrecklich!“, jaulte Steven plötzlich los. „Das bedeutet, ich bin nicht deine größte Angst. Das macht mich so traurig mein Schatz!“ Er stieß ein langgezogenes Heulen aus. Dann seufzte er scheinbar gespielt, nahm einen großen Topf und befüllte ihn mit verschiedensten Dingen. „Willst du etwas noch traurigeres hören? Sie ist weg. Cora ist gegangen.“
„Wohin?“, fragte Gibbli, während Steven den Topf samt den Teilen darin in den Riss warf.
„Woher soll ich das wissen, Mädchen? Wohin auch immer man geht, wenn man dieses Stück Welt verlässt. Ihre Maschine läuft wieder, die Verbindung funktioniert auf der Mara. Aber die KI ist leer. Ihr Geist ist fort.“
Gibbli verzog bedauernd das Gesicht. Sie hatte nichts anderes erwartet. Wer würde schon freiwillig tagelang in einem Körper bleiben, ohne Aussicht darauf, je wieder zu funktionieren? Natürlich hatte Cora ihn verlassen. Jeder hätte das. Es beruhigte sie, dass auf der Mara wenigstens der Teil des Schildes noch funktionierte, der Jacks Störsender davon abhielt, die Oca Technologie zu unterdrücken. Nur der Gravitationszeitschild war von ihrer Beschädigung betroffen.
„Du und ich“, flüsterte Steven betrübt. „Wir sind die letzten.“ Wieder warf er ein Stück in den Riss. „Und keiner von uns ist ein reiner Oca. Es ist fraglich, ob die Maschine uns zusammen anerkennen wird, sobald Jack die Störsender abschaltet.“
„Es muss doch einen Weg geben, die Maschine umzuprogrammieren.“
„Ein Mechaniker hätte wahrscheinlich etwas eingebaut, um sie abzuschalten. Aber ich bin kein Mechaniker. Ich bin ein, wie nennt ihr das noch mal, theoretischer Physiker. Ich tat, was ich kann. Es funktionierte. Das reichte. Es gibt keine Möglichkeit.“
„Ich will sie sehen.“
„Sicher. Gern. Ich bring dich hin. Aber Sky wird nicht erlauben, dass wir gehen. Er denkt noch immer, er könnte die Stadt retten. Er setzt darauf, dass der Mechanismus uns erkennt, sobald Jack die Störsender abschaltet. Vielleicht glaubt er mir auch gar nicht. Warum glaubt mir nur keiner? Ich bin doch ein Genie!“ Steven nahm einen ganzen Haufen und ließ ihn in dem Riss verschwinden.
Gibbli glaubte, ein paar Schüsseln und Besteck zwischen den Schrottteilen zu erkennen. „Was bei Ocea treibst du da eigentlich?“, fragte sie ihn jetzt doch.
„Hä?“ Er drehte sich zu ihr um, eine der Decken in der Hand, die Djego ihnen einst gebracht hatte und blickte sie an, als würde sie von einem anderen Planeten kommen. „Was ist? Na, irgendwohin müssen wir unseren Müll doch entsorgen.“ Jetzt warf er das Stück Stoff hinein.
„Die hätten wir noch brauchen können!“, rief sie empört, obwohl es auf der Mara sicher genug Decken gab. Aber man warf doch Dinge nicht einfach weg!
„Ach, der kleine Menschenjunge bringt dir bestimmt eine neue, wenn du ihn nett darum bittest.“
Ungläubig schüttelte sie den Kopf, während er seelenruhig mit seiner Tätigkeit fortfuhr.
„Idiot“, flüsterte Gibbli.
Er erinnerte sie ungewollt ein wenig an Abyss. Sie schwieg und sah ihm eine Weile zu. Ihre Gedanken wanderten zu Abyss‘ Hand, oben auf der Plattform. Sie dachte an die Drähte, die aus den nachgebauten Fingern heraushingen und darauf warteten, mit seinen Nervenenden verbunden zu werden. Sie musste unbedingt hierbleiben, bis er zurückkehrte. Wie kam sie überhaupt auf die Idee, mit dem Oceaner zu seiner Maschine gehen zu wollen? Es war verdammt noch mal Steven! Ohne seine Kraft vergaß sie immer wieder die Gefahr, die von ihm ausging. Doch dieser Vorfall im Gedankenraum hatte ihr seine Macht wieder in Erinnerung gebracht. Plötzlich realisierte sie, dass er direkt vor ihr stand. Sofort sprang Gibbli auf und trat einen Schritt von ihm weg.
„Wir müssen abwarten was passiert, wenn Jack diese Sender abschaltet“, sagte Steven. „Aber keine Sorge Mädchen, uns wird nicht langweilig, nein. Ich habe die perfekte Idee, um uns die Zeit zu vertreiben. Der Moment für deine nächste Aufgabe ist gekommen.“
Gibbli legte wütend die Stirn in Falten. Abyss war noch immer nicht zurückgekehrt. Sie hatte den Schutzschild der Mara zerstört. Hinter ihnen zog sich der Gravitationszeitriss durch den Raum, in dem Steven so hingebungsvoll ihre Sachen entsorgt hatte. „Der Planet wird angeblich vernichtet, wegen deiner dämlichen Maschine und du willst noch immer dieses dumme Spiel spielen?“
„Sie ist nicht dämlich, das weißt du. Und das Spiel ist nicht dumm. Du magst es, gib es zu. Es macht dich mutiger. Es macht dich risikofreudiger.“
„Einen Dreck tut es, ich hasse es!“
„Küss ihn.“
„Was?“ Verwirrt öffnete Gibbli den Mund.
„Du hast richtig gehört, Mädchen, das ist meine neue Aufgabe an dich. Küss ihn. So etwas tut ihr Menschen doch?“
„Ich soll …“, begann sie und überlegte, „ich soll Abyss …“
„Wäh!“, rief Steven und riss schockiert die Augen auf. Gibbli war sich sicher, dass er wieder übertrieb. „Doch nicht dieses eklige Individuum. War ja klar. Nein, nicht ihn, das wäre zu einfach. Ich meinte natürlich Djego.“
Gibbli schnappte nach Luft „Ihn? Nein! Den will ich nicht küssen!“
Steven lachte. „Abyss wäre erfreut das zu hören. Und ich auch. Denn dann hast du deine Aufgabe abgelehnt und du erhältst eine Strafe.“
„Das ist gemein! Du bist ein Idiot.“
„Das sagtest du bereits und nein. Ich bin ein Oca.“
„Du wärst gerne einer.“
Er fletschte die Zähne „Wie nett du heute wieder bist, mein Schatz! Reibe es mir noch unter die Nase. Also, was ist jetzt, Mädchen?“
Ungläubig starrte sie ihn an. Ihr Kopf schien wie leer gefegt. Sie konnte doch nicht … nicht Djego … nicht … Seine türkisfarbenen Augen kamen ihr in den Sinn und die Art, wie er lässig die rostroten Locken von seiner Stirn strich.
„Okay. Gut, ich mache es“, sagte Gibbli entschlossen.
Überrascht verzog er das Gesicht. „Dein Ernst?“
„Immer noch besser als dir einen Gefallen zu schulden.“
„Du meinst Strafe, einen Gefallen gibt es nur, wenn du es versuchst und scheiterst. Strafen gibt es, wenn du die Aufgabe ablehnst.“
„Ach, lass mich doch in Ruhe damit!“, grummelte sie, drehte sich um und eilte zur Rampe. Bloß weg von Steven, bevor seinem kranken Hirn noch etwas Schlimmeres einfiel, um sich die Zeit zu vertreiben. Na warte, mit der nächsten Aufgabe würde sie sich an ihm rächen!

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