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Kapitel 9: Elitesoldatinnen (Bis in die tiefsten Abgründe)

Gibbli schnappte erleichtert nach Luft, als sie erwachte. Dann fiel ihr ein, dass sie sich noch immer in dieser alten, klapprigen Meeresgondel befand. Wenigstens hatten Nox und Bo es geschafft, zu entkommen! Sie erinnerte sich dunkel an einen Fangzahnfisch, der einen Teil der Siedlung ihres Wohngebietes zerstört hatte, als sie drei Jahre alt gewesen war. Dieses dumme Wasser!
Dann schrie Gibbli plötzlich entsetzt: „Unterbrechungen! Sam, weg da!“
Samantha fuhr erschrocken hoch. Gibbli packte sie am Arm und zog sie auf ihre Seite. Gerade rechtzeitig, die Gondel fuhr mitten in den Riss hinein. Die Seite, auf der Samantha gesessen hatte, wurde von dem seltsamen Gebilde durchzogen.
„Ist das wieder so ein Zeitgravitationsding?“, fragte Samantha und presste sich neben ihr an die Wand.
Gibbli nickte und starrte mit offenem Mund auf Samanthas geflochtene Zöpfe, die in Richtung des Risses gezogen wurden. Kleine Stücke von Dreck erhoben sich und blieben mitten in der Luft vor ihnen stehen. Getrocknete Überreste des Schlammes, der aus ihrer Kleidung gerieselt war. Fasziniert hob Gibbli ihren Arm und ihr Zeigefinger kam der Grenze ihrer Dimension näher. So verboten und interessant wie oceanische Technologie einst ihr Interesse geweckt hatte, zog sie dieses Phänomen an. Wie sich Zeitlosigkeit wohl anfühlte? Gewichtslos, ohne Gravitation und frei …
„Nicht!“ Samanthas Stimme brachte sie in die Realität zurück und Gibbli zog den Arm zur Seite, bevor sie den Riss berührte.
Ein paar Sekunden später passierten sie die Grenze der Anomalie. Die Dreckstücke in der Luft prasselten nach unten. Als sie am Boden aufprallten, zerfielen sie zu winzigen Staubkörnchen. Die Hälfte ihrer Gondel war ebenfalls schwarz gefärbt. Zu ihrem Glück hielt sie noch zusammen. Besorgt trat Gibbli an das Rückfenster und beobachtete die nachfolgende Gondel. Sie konnten absolut nichts tun. Hoffentlich hatten die anderen beiden es rechtzeitig bemerkt. Gibbli wollte sich nicht vorstellen, was passieren würde, wenn lebendiges Fleisch diese Dimension verließ oder auch nur ein Teil davon.
Die restliche Fahrt verlief ereignislos. Irgendwann tauchte in der Ferne der große Zentrumsturm auf. Die goldene Sonne an seiner Spitze überstrahlte die Lichter der unzähligen Gebäude rund herum. Ihre Gondel überflog einen Teil der medizinischen Forschungsstationen und kam schließlich in einem verlassenen Lager in der Akademie an. Hier wurden Bauteile von ausgemusterten U-Booten aufbewahrt.
Gibblis Sorgen erwiesen sich als unbegründet: Abyss sowie Steven stiegen heil aus der Gondel nach ihnen aus. Ihre Füße hinterließen Spuren auf dem staubigen Boden. Abyss schien komplett der alte zu sein, nur Steven wirkte noch etwas angeschlagen.
„Macht den Dreck weg! Ich bin hässlich! Hässlich! Hässlich!“, murmelte er immer wieder.
Allerdings nur, bis Abyss ein Heizungsrohr abbrach und es ihm an den Schädel knallte. Etwas benommen humpelte Steven fortan hinter ihnen her. Während sie versuchten, sich zu orientieren, stand der Oceaner gedankenverloren neben ihnen. Ein seltsames Bild, ihn einmal nicht sprechen zu hören und so ganz in sich versunken zu beobachten, dachte Gibbli.
„Wieso humpelst du eigentlich?“, fragte Samantha. „Deine Beine sind doch gar nicht verletzt!“
„Ach ja, stimmt“, meinte Steven. Er grinste und ging fortan wieder normal.
Die Gänge waren ungewöhnlich leer. Jack schien einen Großteil der Soldaten in die Stadt beordert zu haben und die Schüler standen zu dieser Zeit im Unterricht. Ihr erster Weg führte sie zum verbotenen Archiv. Gibblis Hoffnung, dass sie dort nicht auf die Mara stoßen würden, bestätigte sich. Das war gut. Denn die Soldaten hätten das U-Boot zerlegen müssen, um es dort unterzubringen.
„Diese Akademie ist riesig. Wie sollten wir eure Mara hier je finden?“, fragte Samantha, während sie von einer Lagerhalle aus zu einem der größeren Hangarbereiche schlichen.
„Du warst nie in Mooks. Die Hauptstadt ist viel größer“, sagte Gibbli. „Das hier ist doch nur die Meeresakademie.“
„Und Zentrum der Eliteflotte“, murmelte Abyss, als plötzlich ein Soldat um die Ecke bog. „Ich mach das. Bleibt hinter mir und haltet den Mund.“
Der Soldat verharrte in einiger Entfernung vor ihnen und kniff misstrauisch die Augen zusammen. Eindringlinge, die etwas zu verbergen hatten, wären wohl weggerannt oder hätten versucht, sich zu verstecken. Doch Abyss marschierte einfach weiter, als würde ihm die Akademie persönlich gehören.
„Aus dem Weg“, knurrte Abyss. Er blieb vor dem Soldaten stehen und machte keine Anstalten, sich herabzulassen, um ihn herum zu treten.
Unsicher, wie der Soldat darauf reagieren sollte, roch er an Abyss und rümpfte die Nase. „Wer seid ihr? Ich kenne dich irgendwoher.“
„Wer ich bin? Du wagst es, so mit einem Vorgesetzten zu sprechen?“, brüllte Abyss ihn an, während er etwas aus seiner Tasche zog. „Sei froh, dass ich dich nicht degradiere!“ Er hielt dem Soldaten ein EAG vor die Nase.
Der Mann riss die Augen auf. „Oh. Flottenführer Guhl. Entschuldigt. Mein Fehler, Sir. Moment, ist das nicht das Mädchen? Du hast sie gefunden?“ Die Hände des Soldaten wanderten zu seiner Waffe.
Abyss packte ihn am Arm und schüttelte den Kopf. „Lass den Unsinn, Idiot. Das ist sie, siehst du doch! Ich fing sie ein. War mit den anderen da unterwegs. Ich liefere sie aus.“
Der Soldat kniff seine Augen zusammen. „Du … du trägst keine Uniform.“ Sichtlich angestrengt bemühte er sich, den Dreck zu ignorieren, den Abyss‘ Hände hinterließen.
„Ach und jetzt soll ich mich vor einem Wurm wie dir rechtfertigen? Geh mir gefälligst aus dem Weg!“
Der Mann bewegte sich nicht. Ablehnend deutete er auf Steven. „Ist der dort nicht ein Meermensch?“
„So ein nicht gescheites Menschlein.“ Der Oceaner schüttelte den Kopf. „Immer das gleiche.“ Er nickte Abyss zu. „Ich bin sein Bruder Goggl.“
„Nein ist er nicht. Kannst du dir nichts merken? Halt dein Maul!“, fuhr Abyss Steven an und meinte dann an den Soldaten gewandt: „Er ist krank.“
„Was, das bin ich gar nicht!“
Abyss warf ihm einen giftigen Blick zu. „Oh doch. Er stirbt“, sagte er dann langsam. Es bereitete ihm sichtlich Mühe, diese Worte mit Bedauern auszusprechen.
Steven seufzte. „Nun, damit hat er leider recht.“
Eine weitere Soldatin kam plötzlich um die Ecke. „Was ist hier los?“, fragte sie und trat hinter ihren Kollegen.
Abyss schnippte sofort mit einem Finger und die beiden Soldaten bekamen seltsam glasige Pupillen. Dann schenkte er der Frau ein charmantes Grinsen, für das Gibbli getötet hätte und erklärte feierlich: „Es ist mir eine Freude.“
Irritiert blickte ihn die Soldatin an.
Doch er wandte sich von ihr ab und schrie den Mann an: „Nimm dir gefälligst ein Beispiel an deiner reizenden Begleitung!“ Der Soldat öffnete verwirrt den Mund, doch Abyss drehte sich wieder der Frau zu. Seine Stimme klang ganz sanft. „Deine Ausstrahlung ist wie immer fantastisch. Ich habe dich beobachtet, dein Training macht sich bezahlt.“ Bevor die Frau etwas erwidern konnte, wandte er sich dem Mann zu. „Sie sollte befördert werden, warum hast du dich noch nicht darum gekümmert?“, fauchte er ihn an.
„Natürlich, Sir, ich sorge dafür, bitte bestraft mich nicht, davon wusste ich nichts“, meinte der Soldat kleinlaut.
Abyss lehnte sich lässig neben der Frau an die Wand und hauchte ihr ins Ohr: „Ich erwarte dich in einer Stunde in meinem Quartier.“ Er deutete auf seine Lippen. „Wir müssen deine neue Position ausgedehnt besprechen. Unter mir.“
Die Frau lächelte. „Meine … oh, das klingt … fesselnd.“
„Fesselnd, hm, ja. Eine vorzügliche Gelegenheit, deine abgenutzte Uniform loszuwerden, bevor sich dieser harte Stoff an deiner glatten Haut noch aufreibt. Ich stecke dich in eine … passendere.“
Gibbli blickte auf ihre Hände. Ihre Haut war dreckig. Und dann an sich hinab. Warum hatte sie eigentlich nie trainiert?
Der Soldat bewegte leicht den Kopf, als würde er etwas abschütteln. „Flottenführer Guhl, diese Beförderung erscheint mir nicht angebracht zu sein.“
„Guhl? Das hier ist der legendäre Coobs“, berichtigte ihn die Soldatin. „Wir sollten ihn verhaften.“ Ihre Stimme klang jedoch nicht, als hätte sie das vor, mehr als würde sie Abyss anhimmeln.
Gibbli biss die Zähne aufeinander. Das gefiel ihr nicht, gleichzeitig fragte sie sich, wie er es anstellte, dass sie so an seinen Worten hingen.
„Wer ist Coobs?“, fragte der Soldat verwirrt.
„Okay, scheiß drauf, ich habs versucht.“ Abyss schnaufte genervt aus. „Sky kann mir nichts vorwerfen“, murmelte er und griff in seinen Mantel.
Samantha trat erschrocken zurück. Steven packte Gibbli und riss sie aus der Gefahrenzone und aus ihren Gedanken.
„Guhl! Hey, da seid ihr ja!“, rief plötzlich jemand.
Abyss hielt in seiner Bewegung inne. Die Stimme gehörte einem Mann, der hastig auf sie zu rannte.
Steven lachte. „Sieh dir diesen lächerlichen Hut an“, flüsterte er Gibbli zu und ließ sie los.
Abyss hingegen sah aus, als stäche er jeden Moment zu. Doch zu Gibblis Überraschung ließ er das Messer in seinem Mantel. Gibbli hatte den Mann noch nie gesehen und auch Abyss schien ihn nicht zu kennen. Er trug einen Hut mit breiter Krempe, der ihm ein leicht verwegenes Aussehen verlieh. Der Kerl wirkte ein wenig älter, aber fit wie ein Elitesoldat. Seine Haare waren bereits grau an den Seiten, ebenso wie sein Bart. In den Händen hielt er ein kleines Gerät, über dem ein Hologramm schwebte. Er klickte es weg und steckte es in seine Jackentasche.
„Ich habe euch gesucht. Sehr gut, sehr gut, ihr habt sie. Und wer seid ihr?“, schnauzte er die beiden Soldaten an. „Weg da!“
Er schien großen Respekt zu genießen, denn die beiden Soldaten traten zur Seite und ließen ihn vorbei.
„Kapitän Light?“, sagte die Frau und nickte ihm zu.
Light, den Namen kannte Gibbli doch.
Light, der direkt auf Abyss zu getreten war, wandte sich zur Soldatin. „Kapitän? Diesen Posten habe ich abgelehnt! Ich leite jetzt die Ermittlungen zur verbotenen Technologie, die ihr hier gerade behindert. Ich werde euren Vorgesetzten davon berichten, wenn ihr nicht sofort verschwindet!“
„Ja, Sir, Verzeihung“, sagte der Soldat. Die beiden drehten sich um und gingen.
Das war also der Mann, der die Suche nach ihnen koordinierte. Derjenige, der Gibbli finden sollte, damit sie hingerichtet werden konnte.
„James Light“, fuhr Abyss ihn mit fester Stimme an. „Flottenführer Rhyders befahl uns-“
„Lass das. Ein Flottenführer Rhyders existiert nicht. Und dein Mr. Guhl starb letztes Jahr bei einem Unfall, von dem ich mir sicher bin, dass es keiner war.“
„Ach, echt?“, fragte Abyss mit unschuldiger Miene.
„Man klaut keine geklauten Dinge“, antwortete Light scharf und entriss ihm den EAG. „Den hier ließ Flottenführer Sky vor einigen Monaten mitgehen. Das weiß ich, weiß ich zufällig dabei war. Was hast du deinem Kapitän noch gestohlen?“
„Frag doch meinen Mantel“, erwiderte Abyss.
Light schnaubte. „Oh, er hat also nicht übertrieben, ich weiß, wer du bist.“
„Ach ja? Wer bin ich denn?“, fragte Abyss und zog die Augenbrauen hoch.
„Sky hat mich vor dir gewarnt. Du bist diejenigen, der sich jetzt umdreht und in den südlichen Außenbezirk gehen wird, Hangar 9.“
Steven hob arrogant den Kopf. „Damit ihr uns von dort aus direkt in eure nette Colbspalte verfrachten könnt, zu den anderen toten Menschlein?“
„Nein, Oca. Dort befindet sich das goldene U-Boot, das ihr sucht. Und ihr solltet euch beeilen, die erste Kurseinheit ist bald zu Ende. Dann wird es hier von Schülern wimmeln.“ Light wandte sich von ihnen ab und hob seinen Hut zum Abschied an, um ihn dann noch tiefer ins Gesicht zu ziehen. „Ich kenne euch nicht und dieses Treffen hat nie stattgefunden“, fügte er hinzu und schritt davon.
„Nett. Ich mag ihn. Laden wir ihn zu unserer Weltuntergangsparty ein?“, fragte Steven. „Er könnte unser Hut-Kerl sein. Jede Crew braucht einen Hut-Kerl, stimmt mir zu!“

 

Es dauerte keine halbe Stunde, bis sie die Mara in einer der verlassenen Hangarhallen des neunten Südbezirks im Wasser treibend fanden. Wobei sie eher halb über dem Wasser hing. Über ein Gerüst hatte man Seile befestigt, um sie herauszuziehen. Die oberen beiden Decks lagen frei an der Luft, lediglich das untere Deck mit dem Maschinenraum befand sich noch unter der Wasseroberfläche. Jack schien seine Pläne, die Mara auf Grund zu legen und sie in das verbotene Archiv zu verfrachten, vorerst unterbrochen zu haben. Ocea besaß wohl oberste Priorität.
Mit Stevens Hilfe verschafften sie sich Zugang zu einer der seitlichen Schleusen im mittleren Deck. Sie betraten den Gang zwischen dem MARM und der Zentrale. Gibbli nahm einen tiefen Atemzug. Die Luft in ihrer Lunge fühlte sich an wie ein Löffel purer Freude. Den Geruch der Mara hatte sie so sehr vermisst! Es duftete nach exotischen Pflanzen, vermischt mit der metalligen Note von Maschinen.
In der Mitte des Ganges bogen sie ab und die kreisförmige Öffnung zur Zentrale glitt automatisch auf. Sie traten ein und blieben alle vier überrascht stehen.
Da war schon jemand!

 

Erhobenen Hauptes saß er mit dem Rücken zu ihnen am runden Tisch auf der Bank. Er trug ein cremeweißes Hemd mit den für ihn typisch berüschten Ärmeln. Seine zerrissene Kampfhose hatte er gegen eine neue ausgetauscht, ebenso wie die elegante Uniformjacke eines Flottenführers. Sie hing über dem Geländer, hinter welchem der Weg an den Konsolen vorbei hinab zu den drei Frontsitzen führte. Seine Dreadlocks hatte er ordentlich hochgebunden. Abyss‘ Mantel fiel zu Boden und seine heile Hand wanderte zum Griff eines seiner Messer, bereit es sofort zu packen. Er verzog die Augen zu Schlitzen, während die anderen Sky noch immer mit offenem Mund anstarrten. Ihr Kapitän war nicht alleine.
Links und rechts von ihm stand je eine Frau, die sich beide zu ihnen umdrehten. Schon wieder weibliche Elitesoldaten, schoss es Gibbli sofort durch den Kopf. Sportlich und gutaussehend. Die Soldatin, der sie vorhin begegnet waren, hatte ihr gereicht. Die zwei trugen eine ähnliche Uniform wie Sky. Eine von ihnen hatte langes, rotblondes Haar das seidig glänzte. Dagegen wirkte Gibblis unkämmbare, dichte Mähne wie ein Seeschwamm. Die Frau hatte fast so helle Haut wie Abyss, nur glatter und frei von jeglichen Narben. Die rosafarbenen Wangen erinnerten Gibbli an eine Puppe. Sie schätzte ihr Alter auf etwa zwanzig Jahre. Die andere Soldatin schien nur ein paar Jahre älter zu sein und ihre Haare trug sie so kurz geschoren, dass es kaum möglich war, die Farbe zu erahnen.
Sky saß noch immer ruhig am Tisch. Ohne sich umzudrehen sprach er mit der für ihn so typischen rauen und tiefen Stimme weiter. „Bevor ihr geht, sollten wir die sich soeben bietende Gelegenheit nutzen, euch mit jemandem bekannt zu machen. Im Befehle folgen sind sie mies und ihr Erscheinungsbild mag ungewöhnlich sein, aber ich versichere euch, ich ziehe jeden einzelnen von ihnen allen Soldaten der Flotte zusammen vor.“ Ganz langsam stand er auf. „Vor euch stehen Leute aus meiner Crew.“ Er stieg über die Bank und wandte sich ihnen zu. Sofort verdüsterte sich sein Blick. „Die mein U-Boot verunstalten. Sie … haben es … offensichtlich nicht so mit dem Waschen.“
Gibbli fühlte sich fehl am Platz mit ihren schlammverschmierten Gesichtern und den dreckigen Klamotten. Steven hatte sich zwar als einziger etwas gesäubert, eitel wie er war, stand aber stattdessen übersäht mit Wunden und blutbespritzt neben ihnen. Sein eigenes schien ihm nichts auszumachen.
Der Kapitän und die beiden Frauen traten näher an sie heran. Abyss stand vorne und wirkte, als wäre ihm sein Auftreten völlig egal und Gibbli wusste, wenn Sky ihn darauf ansprechen würde, würde er antworten, dass er immer perfekt aussähe. Irgendwie tat er das ja auch, dachte Gibbli. Sogar wenn er mit zerzausten Bartstoppeln und zerknitterter Kleidung aus einem dreckigen, feuchten Moor entstiegen war. Er legte den Kopf leicht schief und seine Hand ließ von dem Messer ab. Misstrauisch betrachtete Abyss die beiden Frauen.
„Dana Dixland“, Sky nickte der kurzhaarigen Frau zu, sie war kleiner als die andere Soldatin, dafür kräftiger und trainierter, „und Judy Bless“, er warf der rotblonden mit dem puppenartigen Gesicht einen kurzen Blick zu, „wollten uns soeben verlassen.“
„Ach wie schade“, meinte Abyss trocken.
Bless, die Jüngere der beiden, rümpfte die Nase, dann riss sie erstaunt die Augen auf und trat einen Schritt auf ihn zu. „Oh du meine Güte“, rief sie, „du bist Aaron Coobs!“
Mit verschränkten Armen stand er bewegungslos vor ihr, unverrückbar, wie ein Felsen und erwiderte kalt: „Nein.“
„Nicht?“ Sie leckte sich mit ihrer Zunge über ihren dämlich perfekten Mund. „Doch, du bist es! Ich bin ein riesiger Fan von dir! Ich glaub es nicht, dass du hier wirklich vor mir stehst! Der berühmte Coobs!“
Abyss‘ Miene verfinsterte sich. „Ich kenne dich nicht.“
Sie warf ihre langen Haare nach hinten. „Ich war auf jedem deiner Konzerte! Ich bin mir sicher! Meine Güte, ich bin so nervös!“
Was bei Ocea war ein Konzert? Gibbli traute sich nicht, laut zu fragen.
„Beeindruckend, diese Muskeln, du hast dich sehr verändert! Meine Schwester glaubt mir das nie! Oh bitte, ich will unbedingt ein Autogramm von dir!“
Abyss blickte angeekelt auf sie herab.
„Bless!“, sagte die kurzhaarige Frau barsch und nickte zur Öffnung in den Gang hinaus. Dana Dixland war anscheinend ihre Vorgesetzte.
Erschrocken trat Judy Bless zurück. „Ja, Kapitän.“
Sie schritt betont langsam an Abyss vorbei, berührte ihn dabei wie zufällig am Arm und flüsterte ihm irgendetwas zu, das Gibbli nicht verstand. Abyss verzog keine Miene, doch Gibbli spürte plötzlich den Drang, sich auf sie zu stürzen und ihre makellose Haut mit einer Spitzzange zu zerfetzen. Als Bless an ihr vorbeihuschte, stieg der Duft frischer Blüten in ihre Nase und Gibbli presste die Lippen aufeinander, um sie nicht vollzukotzen.
„Kapitän Sky“, Dixland nickte ihm zu, „wir hören voneinander.“ Mit forschen Schritten folgte sie der jüngeren Soldatin nach draußen.
Gibblis Blick wanderte von der verwirrt dreinschauenden Samantha auf Steven, der das Geschehen grinsend verfolgt hatte und strahlte, als hätte Gibbli ihm gerade bestätigt, dass sie sein Mädchen sei. Offensichtlich fand er die beiden storchbeinigen Individuen auch noch lustig. Ein schwerer Stein schien in ihrem Magen zu wachsen. Mit diesen Frauen konnte sie nicht mithalten. Niemals.
Um sie herum wurde es ruhig. Sky baute sich vor ihnen auf. Emotionslos betrachtete er seine Crew und Gibbli wurde wieder bewusst, wie viel Macht dieser Mann besaß. Er wirkte fast majestätisch in der neuen Uniform und den Kampfstiefeln. Sein Blick fiel auf Steven und die Kratzer auf der goldenen Haut. Eine der Wunden an seiner Stirn hatte sich geöffnet und dunkelrotes Blut rann ihm seitlich über die Wangen. Verdammt, das war ihre Schuld!
„Will ich es wissen?“, fragte Sky an Abyss gewandt.
Dieser schüttelte den Kopf. „Nein.“ Er lachte kurz auf. „Hey, ich war‘s nicht, Kapitän.“
Gibbli stutzte. Warum war Sky eigentlich nicht überrascht, sie zu sehen?
„Kapitän. Was tust du hier?“, sprach Steven ihren nächsten Gedanken laut aus, der ihr in den Kopf schoss.
„Ich führe mein U-Boot“, antwortete Sky ungerührt.
„Dein U-Boot? Die Mara-“
„-gehört mir!“, unterbrach er den Oceaner. „Ich habe sie rechtmäßig geborgen und in Besitz genommen. Jack stahl sie mir. Ich hole lediglich zurück, was mir gehört. Und um deine gleich folgende Frage zu beantworten, nein, ich bin nicht erbost darüber, dass ihr sie für mich stehlen wolltet.“ Das ‚mich‘ betonte er besonders.
„Für dich. Natürlich, nur für dich“, murmelte Steven.
„Du wusstest, dass wir hier her kommen wollten“, stellte Samantha fest.
„Es ist die Pflicht eines Kapitäns zu wissen.“
„Und du hast uns nicht aufgehalten?“ Der Oceaner blickte ihn zweifelnd an.
„Ich halte nichts auf, was den Zusammenhalt meiner Crew stärkt. Du und mein Kommunikationsoffizier, fast freiwillig, zusammen auf einer Mission. Eine überaus seltene Begebenheit.“
Gibbli fiel auf, dass Abyss merkwürdig still war. „Das war nicht die ganze Wahrheit“, rutschte es ihr heraus. Er wusste etwas, was die anderen nicht wussten, oder?
Sky wandte sich ihr zu und ihr Herzschlag beschleunigte sich. „In der Tat. Ich gab Abyss den Auftrag, euch zu folgen.“
„Das war meine Entscheidung. Sie hat sich nur zufällig mit deinem Willen gedeckt“, warf Abyss ein.
Gibbli wurde mit einem Mal klar, dass er und der Kapitän mehr miteinander absprachen, als sie gedacht hatte.
„Ich wollte dich nicht alleine mit dem Oceaner gehen lassen“, sagte Sky zu ihr. „Und Sam“, fügte er zögernd hinzu. Dann wandte er sich wieder an Steven. „Du planst etwas und auch wenn du es nicht preisgeben möchtest, sei versichert, ich finde es noch heraus. Entweder das, oder du bist einfach nur tatsächlich geisteskrank.“
Der Oceaner drückte seinen Mund zu einem schmalen Strich zusammen. „Nein“, sagte er dann schnell. „Nichts, nichts, nichts. Ich bin geisteskrank, ja genau! Kein Plan. Oder doch? Ja, Steven plant eine Party!“ Begeistert klatschte er in die Hände.
Der Kapitän stöhnte genervt, dann befahl er: „Geht euch waschen, ihr stinkt!“
Keiner bewegte sich.
„Du hast mich zwar ihnen hinterhergeschickt, aber ich wusste nicht, dass du auch hierher kommst. Wie hast du das gemacht?“, fragte Abyss. „Und ich plädiere eindeutig für geisteskrank. Wir sollten ihn wegsperren. Für immer.“
Sky nahm einen tiefen Atemzug. „Na schön, setzt euch.“
Sie verteilten sich um den runden Tisch herum. Steven setzte sich direkt neben Gibbli. Offensichtlich hatte Abyss nichts dagegen. Er ließ sich auf ihrer anderen Seite nieder, neben dem Kapitän. Samantha saß zwischen Steven und Sky.
„Ich war mir nicht sicher, ob man Djego trauen kann“, begann Sky. Gibbli horchte auf, als er seinen Namen erwähnte. Das braun gebrannte Gesicht des Spions tauchte in ihrem Kopf auf. „Kurz nachdem ihr in die Rettungskapseln gestiegen seid, kam er zurück und erzählte mir, dass Dixland nicht unter den Soldaten in der Stadt wäre und es darum nicht möglich sei, mit ihr direkt zu sprechen. Das kam mir verdächtig vor. Ich musste das überprüfen. Ich … lieh mir einen Ausweis, von jemandem, der vorübergehend eine Weile schlafen wird und ihn darum im Moment nicht braucht.“
Abyss lachte auf. „Klar.“
„Schweig. Dann schlich ich als Soldat verkleidet unter Jacks Reihen in den Aufzug. Und wie es aussieht, sind sie tatsächlich auf unserer Seite, ebenso wie Light. Ich sprach vorhin kurz mit ihm. Das bedeutet, Djego log uns nicht an. Jack hat Dixland mit meiner ehemaligen Flotte hier als Aufsicht zurückgelassen.“
Erleichtert stieß Gibbli die Luft aus. Djego gehörte zu ihnen.
„Allerdings“, fuhr Sky fort, „hat er verschwiegen, dass die beiden nichts von ihm wussten. Weder Dixland noch Bless kennen Djego persönlich. Er verließ die Crew, bevor Dixland zum Kapitän ernannt wurde. Jack muss ihn befördert und auf sein eigenes Boot oder eines seiner Flotte geholt haben.“
„Das bedeutet, entweder hat Djego etwas erfunden, was zufällig der Wahrheit entsprach oder er hat die Leute dieser kurzhaarigen Frau, wie hieß sie, Dixland, ausspioniert und wirklich mitbekommen, dass sie auf deiner Seite steht, ohne sich selbst ihr zu offenbaren“, folgerte Samantha.
„Ja. Das wäre typisch für ihn. Er dealt mit Informationen. Das ist sein Job. Manchmal frage ich mich, für wen. Er ist talentiert darin, für sich selbst das Beste herauszuschlagen.“
Jemanden wie Djego in der Crew zu haben, wäre sicher nützlich, dachte Gibbli. Ob Sky ihn aufnehmen würde? Der junge Mann war immerhin schon einmal in seiner Crew gewesen. Gibbli betrachtete nachdenklich die Kugel über ihnen. Sie konnte das Ding noch immer nicht leiden.
„Tick tack, tick tack“, flüsterte Steven ihr plötzlich ins Ohr. „Du bist eifersüchtig auf die zwei Frauen, nicht wahr?“
Gibbli erschrak. Während Sky gesprochen hatte, war der Oceaner näher an sie herangerückt und hatte die Lücke auf der Bank zwischen ihnen geschlossen. Schnell rutschte sie möglichst unauffällig ein Stück von ihm weg, näher zu Abyss.
„Und den beiden anderen kann man trauen?“, fragte Samantha.
„Ja. Light wäre mir lieber gewesen als Dixland, aber sie ist okay. Sie hat sich immer für die Tiefseemenschen eingesetzt, wo es ihr möglich war. Darum nahm ich sie damals in meine Crew auf. Und Judy Bless …“, Sky schüttelte leicht den Kopf. „Bis eben kannte ich sie nicht. Sie ist unerfahren, aber offen. Dixland hat sie neu eingestellt. Ich nehme an, sie kam frisch von der Akademie. Und wie soeben festgestellt, hat die Kleine Beziehungen zu einer gewissen Untergrundszene, die uns nützlich sein könnte.“
„War klar. Ganz sicher nicht, vergiss es.“ Abyss rümpfte die Nase. „Und ich mag sie nicht.“
„Ich bitte dich, Abyss.“ Sky schloss für einen Moment die Augen, während er aufstand. „Du magst doch fast niemanden.“ Er nahm seine Uniformjacke vom Geländer.
Abyss erhob sich ebenfalls und sprach auf ihn ein. „Diese dürren Weibsbilder sehen aus wie sprechende Puppen. Leere Hüllen, die von nichts eine Ahnung haben!“
Auch wenn der Kapitän über Abyss‘ Meinung nicht erfreut war, der Stein in Gibblis Bauch fühlte sich wieder etwas leichter an.
„Gibbli, kannst du mir zeigen, wo das Badezimmer ist?“, fragte Samantha.
„Unten“, murmelte Gibbli und deutete auf die Rampe, die an den Konsolen vorbeiführte, nach vorne zu den Sitzen, von wo aus rechts und links ein Weg hinabführte.
Samantha blickte sie unsicher an, als würde sie erwarten, dass Gibbli aufstand und sie begleitete. „Ähm, okay“, sagte sie nach einer Weile und drehte sich schulterzuckend um.
Gedankenverloren sah Gibbli ihr hinterher. Wie diese Judy Bless Abyss angesehen hatte, mit diesen langen Wimpern und ihren auffällig großen Augen, das gefiel ihr nicht. Und die beiden Frauen waren fit und stark. Gibbli erinnerte sich daran, wie Somal sie einst als eine Seekuh bezeichnet hatte. Dabei war sie gar nicht dick, oder? Aber schlank auch nicht.
„Du kannst alles sein, was du willst. Du lebst. Du bist jetzt.“
Gibbli fuhr zusammen, als sie Stevens Stimme neben sich hörte. Musste er sie immer so erschrecken? „Kannst du meine Gedanken lesen?“, fragte sie verärgert und beobachtete, wie Abyss und Sky am Geländer miteinander sprachen.
„Nein. Aber das ist doch offensichtlich, oder? Lass nicht deine Vergangenheit entscheiden. Du musst keine Angst haben. Du kannst in jeder Sekunde neu anfangen. Nur der Augenblick zählt. Nicht irgendeiner, sondern der, der jetzt ist.“
Fing er wieder mit seinen Belehrungen an? „Ich kann nicht einfach jemand anderes sein“, flüsterte sie aufgebracht. „Das, was man tut oder ist, hat Konsequenzen und die Vergangenheit bestimmt, was man jetzt ist. Man kann sie nicht ändern!“
„Wow, wie stürmisch du heute bist. Gefällt mir!“ Er hob seinen sehnigen Finger. Er glänzte im Licht der Sonnenstücke. „Aber deine Worte sind nicht richtig, Mädchen. Nein, sind sie nicht. Die Vergangenheit hat nur Einfluss auf diesen Punkt der Dimension, wenn du es zulässt.“
„Das ergibt keinen Sinn. Nur weil du ein guter Physiker bist, bedeutet das nicht-“
„Nein, hör mir zu! Ich will, dass du das begreifst! Für einen Oca ist das sehr wichtig, um ihre Lebensweise zu verstehen! Wir leben zwar nicht in der Zeit, darum können wir sie nicht direkt beeinflussen. Wir existieren nur am Rand von ihr, an diesem einen Jetztpunkt, der an ihr entlang schrammt. Aber das bedeutet nicht, dass für uns die Zukunft feststeht. Es bedeutet, wir können alles tun und alles verändern, jetzt. Die Zukunft steht für uns noch nicht fest. Du kannst Dinge in den Raum legen, ebenso wie du Dinge in die Zeit legen kannst, wenn auch nur jetzt. Denn wir sind heute. Wir sind jetzt! Wir können die Zeit jetzt verändern. Für immer. Jemand, der ihre Ebene nicht berührt, könnte das nicht.“
„Ich muss immer ich sein, ich kann nicht …“
„Du musst gar nichts!“, fuhr Steven sie an. „Niemand muss irgendetwas. Nein. Du willst nur nicht, Mädchen. Aber wenn du es wollen würdest, dann änderst du alles! Jeder kann das. Ich kann … ja, ich kann sogar ihn mögen! Pass auf, ich zeige es dir!“ Der Oceaner sprang mit einem Ruck auf und stieg von der Bank aus mitten auf den Tisch.
Abyss und Sky drehten sich zu ihm herum, während Gibbli ihm mit offenem Mund nachstarrte. Steven tapste vorbei an der schwebenden Kugel und stieg auf der anderen Seite wieder hinab. Dann schritt er weiter nach vorne, passierte die beiden Männer und schwang sich einfach über das Geländer. Gibbli lehnte sich überrascht zurück, als er anfing, die Wand an den Rohren entlang zur Galerie hochzuklettern. In seinem Zustand hätte sie ihm das gar nicht zugetraut.
Abyss ging einige Schritte rückwärts, Richtung Tisch, blickte kurz zu Gibbli und beobachtete dann Steven misstrauisch. „Was tut er da?“, fragte er tonlos.
„Keine Ahnung, aber es verstärkt tatsächlich den Verdacht auf geisteskrank“, murmelte Sky mit zusammen gekniffenen Augen.
Abyss wandte sich ihm wieder zu. „Also, was hast du mitgehen lassen?“
„Was meinst du?“, fragte Sky, während er Steven weiterhin im Blick behielt.
„Ach komm schon, du klaust ständig was.“
Der Kapitän zog seine Augenbrauen zusammen und wandte sich Abyss zu. „Das ist meine Sache, Coobs.“
„Nenn mich nicht so!“
„Sag mir, warum du Bless belogen hast.“
„Ich hab niemanden angelogen!“, knurrte Abyss.
„Und jetzt belügst du mich. Bless hat dich angehimmelt. Das hätte uns von Nutzen sein können.“
Gibbli, die Stevens Kletteraktion verfolgt hatte, der jetzt über ihnen in der Galerie verschwand, blickte erstaunt zu Sky. Ein ungutes Gefühl kroch bei seinen Worten hoch. Bless hatte Abyss nicht nur angehimmelt, sie war ihm regelrecht verfallen. Doch die Art des Kapitäns verwunderte Gibbli noch mehr.
„Seit wann denkst du so hinterhältig?“, fragte jetzt auch Abyss.
„Mein Denken zeugt nicht von Hinterhältigkeit, wenn es den Tatsachen entspricht.“
„Ach, und woher willst du wissen, dass es wahr ist?“
„Ich informiere mich über Menschen, wenn ich ihnen begegne. Vor allem über diejenigen, die ich erwäge, in meine Crew aufzunehmen. Erst recht, wenn diese Informationen illegale Auftritte beinhalten. Obwohl ich zugeben muss, dass du deinen Ruf als kleine Berühmtheit gut verschleiert hast. Wie ein dürrer, zu lange geratener Superstar siehst du wahrlich nicht mehr aus. War das dein richtiger Name in dieser Szene, Aaron Coobs?“
Bevor Abyss etwas erwidern konnte, stoben die beiden Männer plötzlich auseinander. Direkt über ihnen durchdrang eine goldene Gestalt die Decke! Steven fiel und landete mit lautem Krachen zwischen ihnen auf dem Metallboden. Er schüttelte sich und drehte sich zu Abyss herum, während Sky ihn abschätzend musterte.
„Halt das“, murmelte Steven und drückte Abyss eine große Blüte in die Hand, die er offensichtlich in der Galerie oben gepflückt hatte.
„Was-“ Mit der roten Blume in seinen Fingern trat Abyss überrumpelt einen Schritt von ihm zurück.
Sky stellte sich neben ihn und wollte etwas sagen, doch dann hielt er inne. Der Oceaner ging plötzlich vor Abyss in die Knie. Verständnislos starrten beide Männer ihn an. Ebenso wie Gibbli, die noch immer wie erstarrt am Tisch saß.
„Abyss, mein bleicher, warmherzigster, gutmütigster … ähm … immer fröhlich dreinblickender Freund.“ Gibbli war sich sicher, dass allein Abyss‘ Blick ihn umbringen würde, wenn Steven nicht sofort da wegging. Doch der Oceaner fuhr in herzzerreißendem Ton fort: „Ich liebe dich, du … Mensch. Auch wenn du meiner unwürdig bist, ich liebe dich von ganzem Herzen, das ich nicht besitze! Ich liebe dich, mein gigantisch großer Junge!“
Abyss öffnete ungläubig den Mund.
„Siehst du, so etwas passiert, wenn man mir nicht die Möglichkeit lässt, mich über die Leute zu informieren, bevor ich sie in die Crew aufnehme“, raunte der Kapitän ihm zu.
„Gibst du mir ein Autogramm?“, fragte Steven mit klimpernden Augen.
Abyss zog etwas aus Skys Tasche und ließ die Blume zu Boden fallen. Noch während sie hinab segelte, schoss er mit einem Strahler auf sie ein.
Sky schloss seufzend die Augen und verschränkte seine Arme. Seine Implantate blitzten auf.
Steven wich von den beiden weg und trat mitten auf den Tisch. Er drehte sich zu Gibbli herum, die noch immer fassungslos auf der Bank saß.
„Siehst du, mein Mädchen? So funktioniert das. Ich kann mich immer wieder neu erfinden. Die Vergangenheit spielt keine Rolle.“ Begeistert funkelte er sie an. Dann wich sein Grinsen einem traurigen Blick, als sähe er in weite Ferne durch sie hindurch. „Wenn dein kleiner Menschenmann das nur auch so sehen würde, wären wir jetzt uns liebende Gefährten.“ Er sprang vom Tisch. „Wie sagte einst einer eurer berühmten Landmenschen? Und jene, die man tanzen sah, wurden nur von denen für verrückt gehalten, die die Musik nicht hören konnten.“
Gedankenverloren begann der Oceaner zu tanzen und murmelte irgendetwas von alten Freunden vor sich hin. Sie glaubte kurz, die Namen Jeff und Mara heraus gehört zu haben. Gibbli kniff die Augen zusammen, während Steven die filigransten Bewegungen vollführte und dabei den Schmerz seiner Wunden genoss.
Sky hob die verschmorte Blume vom Boden auf und hielt sie Abyss schmunzelnd vors Gesicht. „Unser Oceaner hat dir soeben seine unsterbliche Liebe gestanden, bist du dir sicher, dass du nicht auf Männer stehst?“
Abyss drehte sich zu Steven herum, als dieser plötzlich anfing, laut und falsch zu singen. „Absolut sicher“, knurrte er.
Für einen kurzen Moment vergaß Gibbli, in welcher Situation sie sich befanden und stellte sich belustigt vor, wie die anderen wohl reagieren würden, wenn sie einfach aufspringen und mittanzen würde.
„Trägst du deine Waffe nicht normalerweise rechts?“, fragte Abyss.
„In der Tat“, murmelte der Kapitän. „Und es beunruhigt mich, dass du das so gut im Gedächtnis hast.“
Abyss blickte auf den Strahler in seinen Händen. Gibbli atmete verdutzt ein, als er aufjubelte. „Ha! Ich wusste es! Die Gravur sagt Dana Dixland! Klaust dem Kapitän unsrer neuen Verbündeten die Waffe! Perfekt! Hey, kann ich die behalten?“
„Vergiss es. Gib schon her“, befahl Sky und hielt ihm fordernd die Hand hin.
Mürrisch gab Abyss den Strahler ab. Währenddessen erblickte Gibbli aus den Augenwinkeln Samantha, die gerade vom Maschinenraum hochkam. Vorne in der Zentrale ging sie verwirrt am großen Frontfenster entlang. Vor den drei Sitzen blieb sie kurz stehen, kratzte sich am Kopf, als wüsste sie nicht, wie sie dort hingekommen war. Dann trat sie um die Bäume herum und stieg die Rampe auf der gegenüberliegenden Seite wieder nach unten.
„Chaotischer Haufen. Werdet endlich diesen Gestank los“, sagte der Kapitän scharf und schritt erhobenen Hauptes an Abyss vorbei zu seinem Raum. „Und hört auf mein Boot vollzubluten!“, fügte er hinzu, als Steven an ihm vorbei tanzte.
„Hey, wir könnten den Goldklumpen mit Jack verkuppeln!“, rief Abyss dem Kapitän noch nach, bevor sich die Tür hinter ihm schloss. „Nein? Na dann eben nicht.“
Gibbli grinste, während Steven durch eine Wand in Richtung MARM verschwand.

 

Frisch gewaschen saß Gibbli am Boden im vorderen Teil der Zentrale. Sie lehnte an einer der Konsolen zwischen den Reihen und betrachtete gedankenverloren das Geländer über ihr, welches die Galerie begrenzte. Steven sprang im oberen Stockwerk herum und goss die Pflanzen. Samantha hatte damit begonnen, das U-Boot zu erkunden, was bedeutete, sie irrte irgendwo auf der Mara herum und hatte sich wahrscheinlich verlaufen. Und der Kapitän befand sich wohl noch immer in seinem Raum. Sie hörte, wie Abyss von unten hochkam. Dumpf hallten die Schritte durch die Zentrale. Er ging zur Rampe, die in der Mitte hinter den drei Sitzen zum runden Tisch hoch führte. Das Geräusch bewegte sich vorbei an den Konsolen und verstummte. Er trat ein paar Schritte zurück und blieb in ihrer Reihe stehen. Gibbli drehte ihren Kopf Richtung Gang. Die nassen Haare hingen zottelig in sein blasses Gesicht. Kurz zögerte er, dann trat er auf sie zu und ließ sich neben ihr auf dem Boden nieder.
„Mir wird die Crew langsam zu voll“, murmelte er dabei.
Er tat es ihr gleich, lehnte sich an die Rückwand der Konsole und blickte nach oben, wo hin und wieder Stevens aufgeweckter Schatten hinter einer Pflanze vorbeihuschte. Gibbli erinnerte sich daran, dass Abyss schon immer ein Einzelgänger gewesen war. Nein, sie hatte das nur gedacht. Bis diese blonde Puppe vorhin aufgetaucht war. Dieses Ding hatte mit ihren Wimpern geklimpert und ihn nach einem Autogramm gefragt. Konzerte waren Auftritte, das wusste sie mittlerweile. Natürlich gab es Musikkurse an der Akademie. Aber Musik diente nicht dem Zweck, anderen vorzuspielen, schon gar nicht vor mehr als einer Person. Man nutzte sie, um Kinder dazu zu bringen, ihre eigenen Emotionen im Zaum zu halten. Viele lernten ein Instrument in jungen Jahren und hörten dann wieder auf. Als Erwachsener brauchte man so etwas nicht. Jemand in Abyss‘ Alter, der Musik spielte, war überaus selten. Auftritte in der Öffentlichkeit waren nicht denkbar und sogar verboten. Dennoch gab es offenbar eine Szene im Untergrund, die sich dieser Regel widersetzte.
„Du bist doch vor so vielen Leuten aufgetreten. Wie kann dir die Crew zu voll werden?“, fragte Gibbli leise. Sie wartete, ob er wütend wurde, doch Abyss bewegte sich nicht.
„Ich stand dabei nicht in der Menge“, sagte er nach einer Weile. „Ich befand mich nie bei ihnen. Immer auf der anderen Seite. Auf der Bühnet, hat man Platz. Viel Platz.“
Gibbli sah ihn erstaunt an. Also stimmte es. Er war tatsächlich berühmt gewesen! Eine geheime Berühmtheit. Dass es so etwas überhaupt geben konnte …
„Die Leute nimmst du dort oben gar nicht wahr. Du siehst sie nicht mal, weil das Licht nur auf dich strahlt. Und wenn du dann anfängst zu spielen, dann hört alles andere sowieso auf zu existieren. Es gibt nur noch dich und die Musik. Töne, die sprechen, die das sagen, was du mit deinem Mund nicht auszudrücken vermagst.“
„Wie bist du dazu gekommen?“
„Der Mönch hat das alles aufgezogen. Nachdem er daran gescheitert ist, mich auf der Akademie unterzubringen, nicht, dass ich das zu diesem Zeitpunkt noch gewollt hätte, spielte er meinen Manager. Dass Konzerte illegal sind, störte ihn überhaupt nicht. Höflichkeit war ihm immer wichtig, aber mit den Gesetzen hatte er so seine Probleme.“ Abyss lächelte schief. „Es hatte schon seinen Grund, warum er seine Behausung nicht auf Landmenschengebiet erbaute. Der dumme Kauz musste sich einfach überall einmischen. Vielleicht dachte er, er könnte was aus mir machen. Dabei hätte er doch wissen müssen, dass ich längst jemand war, der, der ich selbst entschied zu sein. Der, der ich noch immer bin. Aber nein, er wollte mich unbedingt groß rausbringen und mit dem Geld seine Suche nach Ocea finanzieren. Nur so funktioniert das nicht. Ich spiele nicht, weil andere wollten, dass ich es tue. Ich spiele, wann ich will und wo ich will.“
Gibbli ahnte, worauf das hinauslief, warum er aufgehört hatte.
„Wir haben oft darüber gestritten. Abgesehen davon, dass wir uns ständig verstecken mussten, gab es ein paar Zwischenfälle. Plötzlich ausfallende Technik, weil ich keine Lust hatte. Kurzfristig abgesagte Auftritte, weil ich spurlos verschwand, was ein paar Leute ein Vermögen kostete. Aufgebrachte Menschenmassen, welche von meiner Crew gebändigt werden mussten. Oh, meine Leute haben mich gehasst. Enttäuschte Fans, die Rache schworen und dann ganz zufällig auf mysteriöse Weise verschwanden. Dennoch, die Leute liebten meine Musik. Ich hab so viele Gesichter im Untergrund an einen Ort gebracht, wie noch nie jemand zuvor. Sie verlangten immer wieder, mich zu hören. Idioten. Erst wollen sie, dass ich spiele und dann, sobald ich es tue, fangen sie an zu heulen, kannst du dir das vorstellen?“
Gibbli konnte sich das gut vorstellen. Sie hatte ihn damals gehört, in der Hangarhalle in seiner Tauchkapsel. Diese schrägen Töne, die alles durchdrangen und einen mitrissen. Zerrissen.
„Der Mönch wollte mich auf keinen Fall aufhören lassen. Wir machten gutes Geld. Nun, illegales Geld, aber es war immerhin so etwas wie eine Arbeit. Nur meine Sicherheitsleute mussten wohl am Ende nicht mehr mich bewachen, sondern alle anderen um mich herum vor mir.“
Abyss schloss die Augen. Er wirkte zufrieden. Gibbli vermutete, dass ihm diese Auftritte durchaus Spaß gemacht hatten und dass er genau wusste, wie er zu spielen hatte, um andere zu manipulieren. Er liebte es, Menschen zu beeinflussen. Abyss mochte oft den Ahnungslosen geben, aber er war viel gerissener und intelligenter, als es den Anschein erweckte. Sky hatte recht, er war ein Schauspieler.
„Wie ging es weiter?“, fragte sie gespannt.
„Nach einigen gescheiterten Versuchen der elitären Flotte mich zu verhaften, wagte niemand mehr, mich auf die Bühne zu lassen. Nicht unbedingt wegen der Soldaten, die hinter mir her waren. Es gab bedauerlicherweise auch Tote auf unserer Seite. Leute, die dem bösen, blassen Hai zu lange auf die spitzen Zähne geblickt haben. Dreckige Heuchler. Und der Mönch gab letztendlich auf.“
„Ich hab nie etwas von illegalen Konzerten mitbekommen.“
„Natürlich nicht. In deinem Alter geht man da auch nicht hin. Und so was steht nicht in der Zeitung. Messer in Körpern von Journalisten hingegen, in denen sie laut der Meinung einiger dämlicher Soldaten nicht stecken sollten, können schon mal vorkommen.“
„Diese Untergrundszene, existiert sie noch immer?“
Abyss schüttelte den Kopf. „Ich war die Szene. Denkst du, es gibt noch jemanden, der so verrückt ist, sich vor so vielen Leuten auf die Bühne zu stellen, der sich offen präsentiert und die Soldaten auf sich hetzt? Nein. Eine Weile hoffte ich, Jess würde es wagen, aber sie war zu schwach.“
Nachdenklich strich Gibbli über den Gitterboden. „Wer ist Jess?“
„Jessica Law war eine Sängerin mit zugegeben einer anhörbaren Stimme. Der Mönch meinte mal, sie könnte mich begleiten.“ Abyss schüttelte den Kopf. „Er hatte viele dämliche Ideen. Ihre Schwester Murphy hätt‘s schon eher schaffen können, aber die interessierte sich nicht für Musik. Es gab noch eine Hand voll anderer, die in kleinerem Rahmen ebenfalls im Verborgenen auftragen, doch ich war der einzige, der das in diesem Umfang gewagt hat. Die Leute vergessen einen schnell, wenn man nicht mehr auftritt. Ich werde immer seltener erkannt. Nun, manchmal muss man natürlich etwas nachhelfen, damit sie vergessen.“
„Mit anderen Worten, du hast mehr Menschen beseitigt, als du zählen kannst“, sagte Sky und sein furchterregendes Gesicht tauchte plötzlich über ihnen auf. Mit verschränkten Armen stand er neben der Konsolenreihe auf der Rampe.
Abyss grinste ihn an. „Und das witzige daran ist, sollte es je rauskommen, werde nicht ich dafür grade steh’n müssen.“
„Ich wusste ja, worauf ich mich einlasse. In Anbetracht deiner Schandtaten erscheint es mir wie ein Tropfen auf heißem Stein, Dixland ihren Strahler zurückzubringen.“
Besorgt kniff Abyss die Augen zusammen. „Bist du krank?“
„Sie wird sich heimlich einen neuen zulegen. Wer gibt schon gerne zu, dass jemand seine Waffe verliert, das ist schwach und peinlich. Sieht man das so, hätte sie es sogar verdient, dass ich ihn behalte. Vielleicht mache ich das ja. Ich könnte ihn im Moment gut gebrauchen.“
„Wozu?“, fragte Gibbli interessiert.
„Später. Sucht den Oceaner.“
„Hey, Goldklumpen!“, schrie Abyss Richtung Galerie, ohne sich zu bewegen.
Sky schloss kurz die Augen und fasste sich ans Ohr.
Das goldene Gesicht tauchte oben zwischen den Pflanzen auf. Steven lehnte sich über das Geländer und starrte missmutig zu ihnen hinab. „Was willst du, bissiger Hai?“
„Idiot. Der Kapitän will dich seh’n.“
„Interessant. Ich werde gerne angesehen, oh ja“, gab Steven amüsiert zurück. „Und da draußen steht auch jemand, der jemanden sehen will.“

 

Gibbli schöpfte sich im Küchenbereich gerade etwas Fruchtsaft in eine Schüssel, als die rotblonde Frau hinter Steven in die Zentrale stelzte. Es war Judy Bless, das Crewmitglied von Dixland. Gibblis Finger krallten sich fester um den Henkel und der Saft schwappte über den Rand. Sky trat fragend näher an Bless heran. Die Soldatin warf Abyss einen nervösen Blick zu, der Gibbli nicht gefiel.
„Ich wollte … also nun ja, Dixlands Waffe, ich glaube, sie hat ihren Strahler hier irgendwo liegen gelassen.“
Armselig, dachte Gibbli. Sie holte ihn nicht einmal selbst.
Der Kapitän nickte. „Zu ihrem Glück habe ich ihn gefunden.“
„Gefunden“, wiederholte Steven und lachte.
Währenddessen betrat Samantha die Zentrale. Erschöpft ließ sie sich auf der gebogenen Bank am runden Tisch nieder. Sky gab Dixlands Waffe zurück. Judy Bless zögerte noch, als wollte sie irgendetwas sagen, wusste aber nicht, wie sie beginnen sollte. Gibbli vergaß die Schüssel in ihren Händen und funkelte sie feindselig an. Wieso verschwand sie nicht? Der Kapitän hob die Augenbrauen, als Bless sich nicht rührte.
„Ich … ja, ich … gehe dann wieder. Danke.“ Sie drehte sich um, um die Zentrale zu verlassen. Als Bless an Abyss vorbei trat, hob sie den Kopf und lächelte ihn für Gibblis Geschmack etwas zu verführerisch an. Dieser streckte plötzlich den Arm aus und schnippte direkt vor ihrer Nase in die Finger.
„Abyss!“, rief Sky scharf.
Bless stolperte nach vorne, als hätte ihr jemand die Füße weggezogen. Währenddessen hing ihr Blick wie gefesselt an Abyss‘ Fingern. Er fing die Frau geschickt auf und hielt sie an den Schultern fest. Erstarrt verharrte Gibbli mitten in der Bewegung.
„Sky.“ Abyss nickte ihm frech zu.
„Oh … ich muss gestolpert sein“, flüsterte Bless und hing mit ihrer Aufmerksamkeit noch immer gebannt an Abyss‘ Gesicht. Langsam strich sie eine seiner langen Haarsträhnen zur Seite.
„Das kann passieren, meine Liebe.“ Er lächelte charmant und nahm ihre Finger von seiner Wange und legte seinen anderen Arm um sie. „Ich begleite dich nach draußen.“
Gibbli presste ihre Hand zur Faust, als Abyss der Frau im Gehen irgendetwas ins Ohr flüsterte. Plötzlich knackte der Henkel des Behälters und scharfe Splitter schnitten in ihre Haut. Die Schüssel fiel zu Boden und der Saft verteilte sich vor ihren Füßen.
„Ich mag sie nicht“, flüsterte Gibbli, während Steven ihr vergnügt half, die Scherben aufzusammeln. Wobei er die Stücke nachdenklich in seinen Fingern wippte, als überlegte er, was er damit anstellen könnte.

 

Samantha schüttelte den Kopf. Sky, der sie gerade etwas gefragt hatte, richtete sich auf, als Abyss wieder herein stapfte. Der Kapitän trat auf ihn zu und schlug ihm genervt gegen die Brust.
„Was?“, fragte Abyss, als hätte er keine Ahnung. „Du wolltest das doch!“
„Du übertreibst. Und sie wurde nicht ohne Grund verboten! Ich befahl dir, deine Hypnosetechniken nicht mehr einzusetzen!“
„Nur bei Crewmitgliedern“, gab Abyss unschuldig zurück.
„Du treibst mich in den Wahnsinn.“ Sky schnaubte. Dann blickte er sich nach den anderen um. „Es wird Zeit, meinen Befehl zu befolgen.“ Über dem Kapitän schwebte die Unheil verkündende Kugel mit dem weißlichen Nebel.
Gibbli und Steven traten an den großen Tisch der Zentrale heran. Die Sonnenstücke in der Luft waren dabei, sich langsam abzudunkeln, was darauf hinwies, dass der Tag sich dem Ende zuneigte. Samantha saß hinter ihnen auf der runden Bank, noch immer müde von ihrer Erkundungstour durch das U-Boot.
„Ich bringe die Mara nach Ocea. Ich muss schnellstmöglich zurück, bevor Jack merkt, dass er eine leere Stadt belagert. Ihr nehmt das Beiboot und begebt euch zu-“
„Ich geh da nicht hin“, maulte Abyss. „Hab keine Zeit.“
„Da ich über deine Zeit bestimme, hast du die“, gab Sky mehr als deutlich zurück.
„Zeit kann man nicht besitzen“, mischte sich Steven ein. „Und ich bin auch nicht dabei. Ich habe Dinge zu tun. Wichtige Dinge, wie … ähm, Kuchen essen! Sam wollte doch einen machen. Ich mag Kuchen, oh ja.“
Samantha blickte interessiert auf und Gibbli schüttelte den Kopf. Steven konnte ja nicht einmal Nahrung zu sich nehmen. Dennoch fragte sie sich, was er eigentlich sagen wollte. Was verbarg er?
„In tausend Jahren wird in den Geschichtsbüchern stehen: Unser Volk wurde ausgerottet, weil ein gewisser Oca Kuchen essen wollte“, sagte Sky und verschränkte die Arme.
„Die können nicht drüber schreiben, wenn sie tot sind“, gab Abyss zurück.
Aufgeregt klatschte Steven in die Hände. „Ich werde in den Geschichtsbüchern dieses Planeten stehen?“
„Schweigt und hört euch die Details an. Also noch mal, ihr fährt mit dem MARM zu den Tiefseemenschen.“
„Tiefseemenschen?“, fragte Steven überrascht. „Nox und Bo sind doch bei denen.“
„Nein, sind sie nicht“, widersprach Sky. „Ich schickte sie zu den Hochseemenschen. Nox wird unter seinem Volk als Verräter angesehen. Und er wäre, noch dazu in Begleitung seiner Hybridenhalbschwester, nie im Stande, sie zu überzeugen. Das wird eure Aufgabe sein.“
„Ach und du denkst auf uns werden sie hören?“, fragte Abyss. „Hallo liebe Wasserheinis, ab sofort übernehmen wir das Kommando. Schließt uns euch an! Unser Kapitän ist zwar ein wenig verrückt, aber dafür ein ganz ehrlicher Mensch mit gruseligen Augenimplantaten. Die werden uns begeistert die Arme abreißen und uns auffressen.“
„Werden sie nicht“, sagte der Kapitän. „Nicht, wenn sie am Leben bleiben wollen.“
In der Zentrale der Mara breitete sich Stille aus. Niemand wagte es, sich zu bewegen, und alle starrten Sky entgeistert an.
„Du willst, dass wir sie erpressen“, folgerte Abyss nach einer Weile.
„Ja.“
Was? Gibbli hatte sich bestimmt verhört! Auch Abyss fixierte ungläubig den Kapitän, als wäre dieser ein Außerirdischer. Währenddessen verwandelte sich Stevens Miene in ein böses Grinsen.
„Ich sehe euch in Abgründe denken! Ihr solltet sie natürlich nicht umbringen. Es geht lediglich darum, sie zu überzeugen, sich mir anzuschließen. Dazu müssen sie euch zunächst zuhören. Und das wiederum funktioniert am besten mit etwas ganz Großem. Im verbotenen Archiv gibt es einige interessante Gegenstände. Zum Beispiel fand ich heute Morgen, zufällig, nach einem Spaziergang darin, das nette Gerät hier in meiner Tasche.“ Sky legte einen goldenen Gegenstand auf den Tisch. „Ob sie funktioniert oder nicht, spielt keine Rolle. Ihr sollt sie ja nicht einsetzen.“
Abyss hob die Augenbrauen. „Zufällig.“
„Eine Oca-Waffe auf materieller Basis. Sie ist im Stande winzigste Tond-Materieteilchen freizusetzen, welche sich mit allen organischen Molekülen verbindet und diese in simples Wasser umwandelt“, sagte der Oceaner. „Eine gute Wahl, ja. Lügen. Betrug. Täuschung. Der gerechtigkeitsversessene Kapitän bricht das Gesetz. So mag ich das.“
„Ich breche keine Regeln. Ich belüge sie auch nicht. Ihr werdet das tun. Wozu sonst nahm ich Leute wie euch in meine Crew auf? Damit ihr mir das U-Boot putzt?“
Sky konnte sich auch alles irgendwie gut reden, dachte Gibbli.
Abyss nahm das metallene Gerät und betrachtete es abschätzig. „Es fällt sowieso auf dich zurück, also ist es ja egal ob wir es tun, oder du.“
Steven schüttelte abwehrend den Kopf. „Ich putze meine liebe Mara liebend gern und ich mag deine Pläne Kapitän, ich liebe sie. Aber sie dauern lange.“
„Und?“, fragte Sky gereizt.
„Und wenn wir diese Zeit nicht haben?“
„Erkläre dich!“, verlangte der Kapitän.
„Der Riss. Die RISSE!“, sagte der Oceaner übertrieben verzweifelt und mit voller Hingabe begann er zu flüstern: „Was ist, wenn … wenn es wieder passiert?“
„Da wir nicht wissen, woher diese Phänomene kommen und du anscheinend nicht mehr darüber preisgeben möchtest, müssen wir dieses Risiko eingehen. Es sei denn, du hast eine bessere Idee.“
Sky blickte ihn mit hochgezogenen Augenbrauen an.
„Nein“, erwiderte Steven schnell. „Ich bin ideenlos, oh ja, ich habe niemals nie irgendwelche Ideen.“ Plötzlich lachte er auf. „Ha, dein Plan ist ganz hervorragend, Kapitän!“
Abyss kniff misstrauisch die Augen zusammen.
Der Oceaner strahlte über das ganze Gesicht und plapperte weiter: „Wir überzeugen die Tiefseemenschen. Steven richtet das. Ich bin gut. Ich schaffe das, ICH bin ein Genie!“
Der Kapitän seufzte.
„Die Tiefseemenschen also“, murmelte Abyss Gibbli zu. „Da wirst du wohl wieder tauchen müssen.“
Gibbli sah ihn unsicher an. Verhielt er sich jetzt wieder normal? Nein, er setzte schon wieder diesen traurigen, abweisenden Blick ihr gegenüber auf.
„Gibbli bleibt hier“, erwiderte Sky mit fester Stimme.
„Warum?“, fragte sie. Nicht, dass sie unbedingt tauchen wollte, aber wenn Abyss ging, dann würde sie auch gehen. Ob oder was auch immer zwischen ihnen stand, spielte keine Rolle.
Die schwarzen Augen des Kapitäns blitzten auf. „Du hast deine Ausbildung nicht abgeschlossen.“
Entrüstet schnappte Gibbli nach Luft. Warum fing er jetzt damit an? Sollte sie etwa zurück auf die Akademie gehen? Würde sie das jetzt für den Rest ihres Lebens verfolgen?
„Das hast du nicht zu entscheiden!“, knurrte Abyss.
„Meine Crew, meine Entscheidungen“, sagte Sky scharf, ohne sich von Gibbli abzuwenden. „Wolltest du nicht wissen, wie man schießt? Der erste Flottenführer und bald Herrscher des ganzen Planeten höchst persönlich wird dich das Kämpfen lehren.“
„Herrscher des Planeten? Wie bescheuert klingt das denn bitte? Deine Ex-Frau hat recht, du bist wahnsinnig, Sky.“ Abyss schüttelte grinsend den Kopf, während Steven den Kapitän ernst ansah.
„Das wird man zwangsläufig, wenn man eine Bande von Verbrechern wie ihr es seid, zusammen halten soll. Und jetzt verschwindet endlich, Abyss!“
Gibbli fuhr zusammen, als Steven plötzlich eine eiskalte Welle durch sie hindurch schickte, offensichtlich um ihre volle Aufmerksamkeit zu erhalten. „Gib auf die Mara acht, Mädchen. Sie ist der einzig sichere Ort.“ Ohne sich weiter zu erklären, drehte er sich um und trat durch die Wand, Richtung MARM.
„Schön. Auf, in den Untergang.“ Abyss nickte Sky zu, dann folgte er ihm langsam, ohne zurückzublicken, ohne sich von Gibbli zu verabschieden. Betrübt schluckte sie.
Sie wischte sich etwas Blut von den Fingern. Der kleine Riss von der Scherbe, der sich auf ihrer dunklen Haut dahinzog, war nicht tief. Der, den sie gerade in sich aufbrechen fühlte dagegen, war es.
Gibbli widerstand dem Drang, ihm hinterherzulaufen. Stattdessen starrte sie auf seine blonden Haare, die sich langsam entfernten. Was, wenn sie ihn nie wieder sehen würde? Wenn er dort draußen starb, im Wasser.
Mitten in der offenen Tür blieb er stehen. Abyss zögerte kurz und drehte sich dann um. Gibbli durchfuhr ein Schauer, als ihre Blicke sich trafen und die graue Farbe der traurigen Augen sich in ihr Innerstes bohrte.
„Ich werde hinter dir stehen. Immer. Egal, was du machst. Egal, was du über mich denkst und egal, was es wagt, sich zwischen uns zu stellen. Wenn du fällst, fange ich dich auf. Auch wenn du das nicht willst. Ich tu’s trotzdem.“
Eine Gänsehaut breitete sich über Gibblis ganzen Körper aus. Ohne eine Antwort abzuwarten, trat er in den Gang zum MARM hinaus und der Durchgang schob sich hinter ihm zu.
„Was meinte er damit?“, fragte Samantha vom Tisch aus.
„Ich … bin mir nicht sicher“, antwortete Gibbli mit den Gedanken noch immer bei ihm. Seine Worte schienen sich in ihrem Kopf festzubrennen: ‚Ich werde hinter dir stehen. Wenn du fällst, fange ich dich auf.‘
Währenddessen stieg der Kapitän schon hinab zum mittleren Steuersitz, um das U-Boot nach Ocea zurückzubringen.

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