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Kapitel 3: Zwei Hälften (Bis in die tiefsten Abgründe)

„Wach auf, mein Schatz …“ Steven rief nach ihr.
Sie lag zusammengerollt am Boden, die Knie eng an ihren Körper gezogen. Das Tackern der Maschine drang in ihre Ohren.
„Mädchen!“
Was wollte er denn jetzt wieder? Wie viel Zeit war vergangen? Gibbli konnte sich nicht daran erinnern. Wann war sie eingeschlafen? Sie wusste nicht einmal, ob sie gerade träumte. Egal. Sie entschloss sich, einfach weiterzuschlafen.
„Hey, Mädchen, wach endlich auf! Sie kommen wieder!“
Müde hob Gibbli den Kopf und kniff die Augen zusammen. Die Wesen leuchtenden durch das milchige Glas. Schön. Sollten sie doch. Es war ihr gleichgültig. Nein. Moment. Da war jemand bei ihnen! Sie zog sich hoch, ignorierte dabei ihren schmerzenden Rücken und blickte zu Steven. Dieser beobachtete misstrauisch den Eingang, vor dem sie eben noch gelegen hatte. Die sich nähernde Gestalt war bestimmt einen halben Kopf zu groß für Sky und zu stofflich für einen Mog. Er schien sich zu wehren. Doch gegen so viele dieser Leuchtwesen standen seine Chancen gering. Es sah aus, als fuhr hin und wieder eines davon mitten durch ihn hindurch, woraufhin er jedes Mal gekrümmt zusammen zuckte.
„Halt dich fern vom Eingang“, rief Steven, packte sie von hinten und zerrte sie rückwärts zur gegenüberliegenden Wand.
Die Mog schienen Mühe zu haben, den Mann zu bändigen. Kämpfend kamen sie durch die Öffnung gestolpert. Gibbli hörte auf zu atmen. Als er sie und Steven erkannte, hielt er inne und betrachtete die beiden reglos. Gibbli hatte das Gefühl, dieser Augenblick würde Stunden dauern. Die Mog zogen sich vorsichtig zurück und der Eingang verschloss sich hinter ihm. Ganz langsam richtete er sich auf, ohne sich von ihr auch nur eine Sekunde abzuwenden. Der Mantel fiel dabei zu Boden. Er beachtete ihn nicht. Seine düstere Miene füllte den gesamten Raum und vereinnahmte ihn, als würde alles hier ihm gehören. Schnell holte Gibbli Luft, als ihr wieder einfiel, dass sie weiter atmen sollte, wenn sie nicht irgendwann ersticken wollte. Seine Haare waren ein ganzes Stück gewachsen und das Gesicht blasser als in ihrer Erinnerung. Um seine rechte Faust hatte er einen blutdurchweichten Fetzen weißen Stoffes gewickelt.
„Weg von ihr“, verlangte er nachdrücklich und der Klang seiner Stimme spießte sie regelrecht auf. So voller Energie, so unnachgiebig, so unwiderstehlich wie immer.
Nein, Gibbli dachte nur, seine Stimme zu hören. Sie versuchte, die Worte aus ihrem Kopf zu drängen. Weg von ihr. Weg von ihr. Weg von ihr, hallte es immer wieder durch ihre Gedanken. Gequält schloss Gibbli ihre Augen. Warum tat er das? Was spielte dieser Steven für ein Spiel? Sie wollte sich von ihm losreißen. Doch im nächsten Moment spürte sie eine metallene Klinge an ihrem Hals. Sein Messer! Der Oceaner musste es unbemerkt aus ihrem Stiefel gezogen haben. Das hier war echt. Oder? Gibbli zwang sich, die Augen wieder zu öffnen. Die durchtrainierten Umrisse seines Körpers befanden sich nur ein paar Meter vor ihnen. Einfach so. Fest. Unverrückbar.
„Hallo Abyss“, sagte Steven freundlich hinter ihr.
„Ich sagte weg“, wiederholte Abyss fast flüsternd und so bedrohlich, dass Gibbli fürchtete, allein seine Worte könnten sie umbringen.
Sie spürte eine Träne über ihr Gesicht laufen. Ohne es zu wollen, verzog sich ihr Mund zu einem Lächeln und sie vergaß Steven völlig, bis er wieder zu sprechen begann.
„Oh, ich lasse sie los. Aber bevor ich das tue, solltest du dir etwas ins Bewusstsein rufen, mein Freund. Komm zu uns. Tritt näher!“
„Du hast es ihr nicht gesagt.“ Abyss zog die Augen zu schmalen Schlitzen. Doch keinen Augenblick wandte er sich von den ihren ab. Er sprach mit Steven, ohne ihn anzusehen. Während sein Gesicht ihr immerzu sagte: Ich fresse dich auf, Gibbli. „Du weißt es seit Tagen und hast ihr nicht mitgeteilt, dass wir leben.“
„Oh nein, unterstelle mir nichts! Ich erzählte es ihr, mehrmals! Sie hielt alles für einen Traum“, rechtfertigte sich der Oceaner hinter ihr. Steven drückte das Messer stärker an sie. Es war Gibbli egal. Ja, das war der beste Traum seit langem! „Worauf wartest du, mein Freund? Hier ist niemand, der dich aufhält. Keiner, der dir befehlen wird, es nicht zu tun. Kein Kapitän, der dir sagt, lass es.“
„Ich bin nicht dein Freund“, sagte Abyss deutlich.
„Ahh, nein, nein, nein. Sei nett zu mir, immerhin habe ich dir etwas geschenkt. Komm näher, großer Mensch. Ihr Einfluss auf mich ist hier nicht präsent. Ich tue ihr nichts, keine Sorge. Aber du, du wirst es, nicht wahr? Ja, das wirst du.“
Abyss trat langsam näher und fing an zu grinsen, während er Gibbli abschätzend betrachtete. Gibblis Miene gefror und ihre Mundwinkel sackten nach unten, als ihr plötzlich die Gier in seinen grauen Augen bewusst wurde. Und sein Ausdruck wurde mit einem Mal wieder düsterer. Er stand jetzt so dicht vor ihr, dass sie seinen vertrauten Geruch wahrnahm, altes Holz, vielleicht leicht angekokelt.
„Nicht.“ Betrübt hob Abyss seine linke Hand. Ein Stromstoß durchfuhr Gibbli, als er behutsam mit einem Finger über ihre Lippen fuhr. „Hör nicht auf damit. Ich liebe es doch, wenn du das tust. Eine reizende Gesellschaft hast du dir hier ausgesucht … Freund“, raunte er.
„Ja, nicht wahr?“, erwiderte Steven. „Reiß ihr die Kleider vom Leib und nimm dir, was du begehrst. Mach das, was du schon immer mit ihr machen wolltest“, rief Steven wieder hinter ihr und drückte sie fester an sich.
Gibbli blickte überrascht in Abyss‘ blasses Gesicht, als er sich zu ihr hinab beugte. Ihre Augen weiteten sich entsetzt. Flehend formte ihr Mund seinen Namen. Doch kein Laut schaffte es an ihren Lippen vorbei nach draußen.
Steven lachte zufrieden auf. „Du willst sie. Du wolltest sie immer. Jetzt kannst du sie haben. Deine Chance, Mensch. Diese Möglichkeit bekommst du vielleicht nie wieder!“
Gibbli schluckte, als plötzlich eine Erinnerung in ihr hochstieg: ‚Ich würd am liebsten in deine Haut beißen und sie mir auf der Zunge zergehen lassen, wie Schokolade. Etwas an dir wirkt so anziehend, dass ich mich zurückhalten muss, um dir nicht sofort alle Klamotten von deinem zerbrechlichen Körper zu reißen.‘ Das hatte er gesagt. Damals, im Gefängnis der Akademie. Dieser Traum schien sich zu einem Alptraum zu entwickeln.
Abyss hob seinen anderen Arm, mit dem Stofffetzen an der Hand und schob eine Strähne ihrer hellbraunen Haare beiseite. Sie fühlte die feuchte Spur aus Blut, seinem Blut, die er dabei auf ihrem Gesicht hinterließ. Er würde nicht … er würde nie …
Er war ein Verbrecher. Er würde.
Behutsam fuhr Abyss über ihre Stirn. Plötzlich packte er Gibbli an den Schultern. Sie schnappte panisch nach Luft.
Seine Mundwinkel zogen sich nach oben und kleine Grübchen bildeten sich auf seinen Wangen. „Du glaubst doch nicht ernsthaft, den Planeten verlassen zu können, ohne mich mit zu nehmen?“
„Worauf wartest du, Mensch? Ich halte sie für dich fest.“
Sanft strich Abyss eine weitere Haarsträhne aus ihrem Gesicht und legte beide Hände an ihre Wangen. Sie nahm sofort die Wärme wahr, die von ihnen ausging.
„Du bist eiskalt, Gibbli“, sagte er tonlos.
Sie schloss zitternd die Augen, als er sich an sie drückte, ohne Steven weiter zu beachten. Er flüsterte etwas in ihr Ohr, das wie eine Entschuldigung klang. Hatte er wirklich ‚Es tut mir leid‘ gesagt? Gibbli war sich nicht sicher. Sie spürte seinen warmen Körper an ihrem. Und Stevens eiskalten hinter ihr.
„Die Wände könnten einen neuen Anstrich vertragen, was meinst du … Freund?“, hörte sie Abyss direkt neben ihrem Kopf sagen.
Der Oceaner lachte. „Zugegeben, mein Freund, dieser Raum ist ein wenig eng für drei, aber-“
„-aber was macht das schon, wenn man mit dem faszinierendsten Mädchen, das zufälligerweise auch noch die schönste Frau im ganzen Universum ist, darin eingeschlossen wurde.“ Abyss küsste sie auf die Seite ihrer Stirn.
Gibbli zuckte zusammen. Das passierte nicht wirklich. Das durfte nicht passieren!
„Willst du wissen, was mit Leuten geschieht, die meine kleine Schwester anfassen?“ Wieder spürte sie Abyss‘ Lippen an ihrem Kopf.
„Natürlich, zeig es mir, Mensch.“
„Gar nichts.“ Abyss richtete sich auf und drückte sich fester an Gibbli. Dann raunte er Steven ins Ohr: „Denn es macht Plopp und sie hören ganz zufällig auf zu existieren.“
„Hm? Das musst du mir genauer erklären, Mensch.“
Gibbli wimmerte verängstigt, als sie spürte, wie Abyss‘ ganzer Körper sich anspannte. „Nun, ich hatte da an Rot gedacht. Für die Wände hier mein ich. Oder ist der pampige Schleim in dir golden? Ich bin mir nicht mehr ganz sicher.“ Abyss‘ Hand schnellte abrupt nach vorne.
Steven heulte auf und ließ das Messer fallen.
„Ah, es ist rot.“ Spritzer von Stevens Blut hatten sich auf Abyss‘ blassem Gesicht verteilt. Er wirkte damit wie jemand, dem man lieber nicht begegnen sollte, wenn man länger als ein paar Sekunden überleben wollte.
Gibbli sackte nach unten. Sie tauchte hastig zwischen Abyss‘ Beinen hindurch und kroch von den Männern weg. Im nächsten Moment packte Abyss den Oceaner und presste ihn mit aller Kraft gegen die Wand.
„Mach keinen Fehler!“, schrie Steven gespielt ängstlich auf.
„Genau so“, Abyss schlug wieder zu, „läuft das ab, wenn jemand versucht“, wieder schlug er auf ihn ein, „MEIN“, ein weiterer Schlag traf den Oceaner, „Mädchen anzufassen!“
Steven brüllte, doch dann verwandelte sich sein Schrei in ein fürchterliches Lachen. „Ihr braucht mich, um hier raus zu kommen!“, krächzte er. Ein hässlicher Riss lief quer über seine goldene Wange.
Tief einatmend drückte sich Gibbli in eine Ecke der Zelle und beobachtete die beiden.
„Bedauerlicherweise … stimmt das vielleicht sogar.“ Abyss‘ Nasenspitze berührte fast die des Oceaners und seine Stimme ließ alle Haare auf Gibblis Haut aufstellen, als er weiter sprach: „Wenn du goldener Scheißhaufen sie noch einmal berührst und sei es nur mit der Spitze einer deiner verfickten Finger, dann zerfetze ich dich. Ich zieh dir die Haut ab. Ich schlitze dich auf. Ich werde die Wände dieser Zelle mit deinem rotzigen Blut streichen. Hast du das verstanden!“
Das war keine Frage. Doch Steven grinste nur. Abyss schrie wütend auf und biss die Zähne zusammen. Mit einem heftigen Ruck warf er den Oceaner erneut gegen die Wand. Ein dumpfer Schlag ertönte und Stevens Kopf prallte dagegen.
„Halt deinen dreckigen Schwanz von ihr fern! Gib mir einen Grund, dir nicht auf der Stelle alle Knochen zu brechen.“
„Den gebe ich dir gerne, alter Freund“, sagte Steven und schüttelte freudestrahlend und gepeinigt zugleich den Kopf. „So etwas besitze ich nicht. Und Knochen übrigens auch nicht, nicht solche, wie ihr denkt. Aber tu’s nur, brich mir alles! Oca lieben Schmerzen!“
Als wäre er sich nicht sicher, ob er erleichtert oder angewidert sein sollte, ließ Abyss ihn los und trat zurück.
Steven sank laut lachend zu Boden. „Verzeih mir den Ausdruck, du bist so hirnlos. Du hattest sie! Du hättest alles mit ihr tun können.“ Sein Kopf sackte an die Wand. Die Wunde schien ihn mehr zu erschöpfen, als er zugeben wollte. „Du enttäuscht mich, Mensch“, seufzte er leise.
Abyss ballte die Hände zu Fäusten. „Du hast keine Ahnung! Du kennst mich nicht! Und du kennst sie nicht! Gibbli ist … sie … GIBBLI!“, schrie er, als wäre er sich plötzlich wieder ihrer Anwesenheit bewusst geworden. Hastig drehte er sich um, eilte auf sie zu und ließ sich vor ihr fallen. Auf den gespreizten Beinen kniend rückte er an sie heran und hob mit einer Hand vorsichtig ihren Kopf.
„Idiot“, flüsterte Gibbli mit halb geschlossenen Augen.
Abyss zuckte mit den Schultern. „Hey, ich musste ihn doch irgendwie ablenken, um an dich … ihn ranzukommen.“
„Wahahaha, na klar.“ Stevens Stimme drang schwach von der anderen Seite aus herüber. „Du hast das auch überhaupt nicht ausgenutzt.“
„Noch ein Wort und ich reiß dir die Zunge raus, du scheiß Goldklumpen!“, schrie er zurück.
„Deine Hand blutet“, stellte Gibbli erschöpft das Offensichtliche fest.
„Ich blute auch“, rief Steven fröhlich irgendwo hinter ihm am Boden liegend.
„Ja, das tut sie manchmal. Ist nicht richtig verheilt. Ich glaub, diese Nebelwesen mögen mich nicht besonders. Bin mir sicher, sie wären in der Lage, Finger nachwachsen zu lassen. Mit dem Marahang wär’s besser zugewachsen. Aber Bo ist noch in Ocea.“ Er riss den durchtränkten Fetzen von seiner rechten Hand, mit dem er sie notdürftig umwickelt hatte.
„Dir fehlen zwei Finger!“, rief Gibbli halb schockiert, halb erstaunt. Die Wunde war zum Teil zugewachsen und sah eklig aus. Der Schmerz musste unvorstellbar sein, und er saß einfach da und ignorierte ihn, so gut es eben ging. Kurz hatte Gibbli das Gefühl, seine Finger würden vor ihren Augen verschwimmen.
„Ja. Egal, mach dir darum keine Gedanken! Bist du okay? Hat er dir was angetan?“
Schnell schüttelte Gibbli den Kopf. Ihr wurde leicht schwindelig. Gleichzeitig verspürte sie ein seltsames Kitzeln im Bauch, wie kleine Würmer, die darin umher krabbelten. Und dieser eine Gedanke durchdrang ihren Geist: Stevens Name stand auf ihrem Rücken. Abyss durfte es nie erfahren! Sie wollte keine Schwäche zeigen und schon gar nicht vor ihm. Sie zwang sich, ihre Mundwinkel zu heben.
„Mach das nicht. So siehst du aus wie Bo. Soll ich ihm was abschneiden? Vielleicht seine Nase? Die mochte ich noch nie.“ Abyss erwiderte, ihr dieses Mal echte Lächeln. „Schon viel besser. Wie wär’s, wenn ich ihm ein paar Finger abhacke? Er soll nicht mehr haben als ich, meinst du nicht auch?“
Er hatte ihr so sehr gefehlt! Seine beschützende Ausstrahlung, seine aufmunternden Worte, seine fesselnden Blicke, einfach alles was er tat und von sich gab. „Ich will nicht mehr aufwachen“, sagte Gibbli müde und lehnte ihren Kopf nach vorne, an seine Brust.
Abyss legte seine Arme um ihren Rücken und drückte sie an sich. Sie zuckte zusammen, als sie die Berührung auf der Wunde unter ihrem Pullover spürte und hoffte, er würde es auf ihr Frösteln schieben. Sie fror ja auch bitterlich.
„Du bist doch wach, Gibbli“, vernahm sie seine Worte.
Gibbli schloss die Augen. Endlich konnte sie richtig schlafen. Ohne Angst vor diesem … was immer Steven auch war. Ohne ständig aufpassen zu müssen, wo er sich gerade befand. Abyss würde nicht zulassen, dass er herkam. Endlich hatte sie Ruhe. Wenigstens diesen einen Traum lang.
„Ich mag nicht tanzen“, murmelte sie.
„Tanzen?“, fragte Abyss irritiert. Seine große Hand auf ihrer Stirn und die geflüsterten Worte „Du bist eiskalt“, waren das letzte, was Gibbli noch mitbekam, bevor sie einschlief.

 

Eine Stimme in der Dunkelheit drang in ihr Bewusstsein: „Wie schaffst du es, in ihrer Nähe die Kontrolle nicht zu verlieren? Sag es mir, Mensch. Ich meine auf eurem Planeten, wo ihre Kräfte nicht unterdrückt werden?“
Da hatte Gibbli den schönsten Traum, seit die beiden in diesem dummen Glasraum saßen und Steven weckte sie auf! Konnte er nicht einfach still sein? Dicker Stoff lag auf ihr und verwundert stellte sie fest, dass sie nicht mehr fror. Etwas um ihren Körper herum bewegte sich. Große, kräftige Arme und Beine! Gibbli fühlte sich eingezwängt, doch sie überwand den Impuls aufzustehen. Es war so schön warm wie seit einer Ewigkeit nicht mehr.
„Bist du immun? Und Sky? Auf ihn wirkt sie auch nicht, nein. Er ist mir ein Rätsel. Hey du, Mensch! Antworte mir! Ich weiß, dass du wach bist, oh ja!“
„Wenn ich deinen Kopf noch mal gegen die Wand ramme, hörst du dann auf zu reden?“, fragte Abyss düster. Als wäre er wirklich hier, dachte Gibbli. Sie saß zwischen seinen Beinen und er hielt sie fest umschlungen.
„Die Mog unterdrücken Oca Technologie und damit auch ihre Kräfte“, sprach Steven weiter. „Hier wirkt ihre Anziehung jedenfalls nicht, nein.“
„Dummkopf. Sie wirkt immer“, sagte Abyss leise.
„Nein, Mensch. Du kannst es hier nicht spüren.“
„Ich spüre sie immer.“
„Selbst wenn du nicht in ihrer Nähe bist?“
„Immer.“
Ein regelmäßiges Trommeln drang an ihr Ohr, als die Stimmen verstummten. Beruhigende Schläge, stetig und stark. Nach ein paar Sekunden erkannte Gibbli, dass es sich um das Schlagen eines Herzens handelte. Ein lebendiges, echtes Herz.
„Abyss“, flüsterte Gibbli. „Es … schlägt.“
„Es gehört dir. Ich bin da“, sagte Abyss sanft. „Schlaf weiter. Du warst unterkühlt. Jetzt bist du wieder warm.“
Weiterschlafen. Weiterschlafen war gut, nie wieder aufwachen und für immer in seinen Armen gefangen sein.

 

‚WAMM!‘ Ein ohrenbetäubender Knall weckte Gibbli. Sie hatte an der Wand sitzend gelehnt. Wäre sie nicht in etwas Schweres eingewickelt worden, wäre sie sicher vor Schreck einen Meter in die Luft gesprungen. So fiel sie einfach nur um wie ein Sack Reis.
„Du beschränkter Mensch! Ich sagte doch, da geht nichts durch!“, schrie Steven aufgebracht.
Gibbli kämpfte sich aus dem dunklen Stoff frei und stellte überrascht fest, dass es sich um Abyss‘ Mantel handelte. Er war noch da! Sie blickte auf und kroch sofort in eine Ecke zurück, um nicht zwischen die beiden Männer zu geraten. Er und Steven standen sich mitten in dem kleinen Raum gegenüber und brüllten sich gegenseitig an. Offenbar hatte Abyss versucht, eine der glasartigen Wände zu sprengen, ohne jedoch den geringsten Kratzer in dem milchigen Material hinterlassen zu haben. Verdammt, das hier war wirklich echt! Abyss lebte!
„Du bist irre! Was war das, Mensch?“
„Nach was hörte es sich denn an? Dämlicher Goldhaufen! Eine Mischung aus unphlegmatisiertem Aluminiumstaub und … anderem Zeug.“
Das war typisch, dachte Gibbli. Hätte man ihn gefragt, was H2O bedeutete, hätte er keinen Plan, dass es sich um Wasser handelte, aber so etwas wusste Abyss natürlich.
„Dieses Material ist hoch entzündlich bei Luftkontakt!“, fuhr Steven ihn an.
„Das war der Sinn, du Narr!“
„Mein Mädchen könnte tot sein!“
Die beiden stürzten aufeinander zu und stoben sofort wieder auseinander. Der Eingang öffnete sich. Erst jetzt bemerkte Gibbli den Mann in Begleitung der hellen Gestalten. Da stand er, in seiner Uniform und den Kampfstiefeln.
„Was ist mit deinem Gesicht passiert?“, fragte sie. Es sah nicht viel besser aus als das von Steven. Abgesehen von den Narben um seine schwarzen Augen war es von dunkelbraunen Flecken bedeckt, als hätte ihn jemand geschlagen. Bei ihrem Treffen waren ihr diese gar nicht so genau aufgefallen.
Sky musterte Gibbli prüfend von oben bis unten. „Frag deinen kleinen Bruder“, knurrte er dann, als hätte er beschlossen, dass es ihr gut ging.
„Hey, selbst schuld, das hattest du verdient! Wie kannst du mir den Bogen auch einfach aus den Händen schießen, du hättest Nu beschädigen können!“, fuhr Abyss ihn an.
„Ich zielte auf deine Finger, nicht auf Nu. Ich habe meine Waffe im Griff. Immer! Du wolltest uns alle umbringen!“
„Ich war …“, Abyss brach ab.
„Verzweifelt? Dumm? Ein Arschloch?“, gab ihm der Kapitän ein paar Möglichkeiten, seinen Satz zu vollenden.
Gibbli traute ihren Ohren nicht. Solche Worte aus Skys Mund?
„Klingt sinnvoll. Und was tust du hier überhaupt?“ Abyss nickte zu den Wesen hinüber, die vor der Zelle standen und warteten. „Wolltest du nicht mit diesen durchsichtigen Leuchtfuzzis da verhandeln?“
„Genau das mache ich. Und wolltest du sie nicht befreien?“ Der Kapitän nickte zu Gibbli hinüber.
„Nein. Das war nie mein Plan, mein Plan war lediglich sie zu finden und das hab ich doch!“
„Das sehe ich. Ich will nicht wissen, was du verbrochen hast, dass sie dich hier eingesperrt haben. Und woher kommt eigentlich schon wieder das ganze Blut auf dir?“
„Keine Sorge, ist nicht meins, Kapitän.“ Gibbli fiel auf, dass er das Wort, Kapitän etwas ablehnend aussprach.
„Das gehört mir! Oh ja! Meins!“, rief Steven dazwischen.
Skys Blick glitt zu ihm hinüber. „Er lebt ja noch“, sagte er dann an Abyss gewandt. „Ich bin stolz auf dich.“
„Oh, das hole ich gleich nach.“ Abyss hatte schneller ein Messer in der Hand, als Gibbli schauen konnte.
„Nicht!“ Hastig schüttelte sie den Mantel ab, sprang auf und stellte sich vor Steven. Sofort bereute sie ihre Kurzschlussreaktion und murmelte: „Er … er schuldet mir etwas.“
Abyss öffnete entgeistert den Mund. Ungläubig ließ er sein Messer sinken und starrte Gibbli an, als könnte er nicht begreifen, dass sie tatsächlich hier stand. Zwischen ihnen.
Sky betrachtete sie fragend. „Hört zu, ich bin noch immer am Verhandeln. Wir werden das regeln und dann-“
„Nimm mich in deine Crew auf!“, unterbrach Steven den Kapitän.
„Nein“, sagte Sky kalt. „Damit würde ich riskieren, dass zwei meiner Crewmitglieder sich gegenseitig zerfleischen.“
„Damit bringst du mich um! Bitte, nimm mich auf! Sie werden mich für immer einsperren! Das Leben eines Mog ist lang! Sehr lang!“
Sky öffnete den Mund, doch Gibbli kam ihm zuvor: „Ich will, dass er mitkommt.“
Mit der Crew an ihrer Seite fühlte sie sich mutiger. Sie hatte eine Rechnung mit dem Oceaner offen. Seine Demütigung würde sie nicht auf sich sitzen lassen. Sie würde sich rächen, sie würde … Verdammt, was hatte sie da eben gesagt? Was dachte sie sich nur dabei? Gibbli spürte die misstrauischen Blicke von Abyss und Sky und senkte beschämt den Kopf. Steven hingegen fing an zu grinsen.
„Okay, was geht hier ab, was hast du mit ihr angestellt?“ Abyss packte Gibbli am Arm und schob sie grob beiseite, während Steven an die Wand zurückwich. „Ich bring dich um, ich reiß dir deine scheiß-“
Sky umklammerte Abyss von hinten. Die beiden rangen kurz miteinander. Gibbli starrte sie überrascht an. Sie war sich sicher, dass Abyss stärker war, doch gegen die Kampferfahrung des Kapitäns kam er nicht an. Abyss hörte auf, sich zu wehren und begnügte sich damit, Steven böse anzufunkeln, während Sky ihn festhielt.
„Du wirst gar nichts!“, zischte er. „Du wirst ihn nicht anfassen. Du wirst ihn nicht explodieren lassen. Du wirst ihn nicht mit Messern bewerfen und auch nicht mit anderen Dingen, die dir gerade einfallen“, fügte der Kapitän hinzu, als wüsste er genau, was Abyss dachte. „Du stellst nichts Dummes an, das ist ein Befehl! Keine Gewalt! Das würde weitere Verhandlungen unmöglich machen. Ihr bleibt ruhig! Verstanden? Gibbli ist nur zum Teil oceanisch. Ich bin dabei, die Mog davon zu überzeugen, Menschen zu akzeptieren. Und ich bin mir nicht sicher, ob dies jetzt, nach deinem Verhalten, noch möglich ist!“
„Na dann ist’s eh schon zu spät. Wie wolltest du das überhaupt anstellen?“, fragte Abyss mürrisch und rieb sich den Hals, als Sky ihn losließ.
„Reden Abyss, so etwas nennt man Reden. Und das sollte eigentlich deine Aufgabe sein, Mr. Kommunikationsoffizier!“
Genervt verschränkte Abyss die Arme und lehnte sich an eine Wand neben Gibbli.
„Und was ist jetzt mit mir?“, fragte Steven leise aus einer Ecke.
„Was soll mit dir sein? Du bist ein Verräter“, erwiderte Sky und drehte sich zu ihm um. „Sie werden dich nicht gehen lassen.“
„Ihr braucht mich!“
„Niemand braucht dich“, warf Abyss ein.
Doch Steven beachtete ihn nicht. „Ich schwöre dir, wenn ich nicht mitkomme, wird es deine Welt nicht mehr lange geben, mein Kapitän! Euer Planet wird so nicht mehr existieren! Nein, ich meine es ernst, das ist die Wahrheit. Und Sie“, er deutete auf Gibbli, „steht in meiner Schuld. Ich habe ihr Leben gerettet. Außerdem schulde ich ihr einen Gefallen, wie sie vorhin gesagt hat.“
Sky wandte sich nachdenklich Gibbli zu. „Ich überlege es mir.“
Abyss schüttelte verständnislos den Kopf.
„Gehen“, wisperte einer der Mog am Eingang.
Sky nahm einen tiefen Atemzug und trat langsam auf die Wesen zu. Kurz bevor er den Raum verließ, drehte er sich noch einmal um zu Steven. Dann fixierte sich sein Blick auf Abyss‘ graue Augen, der düster zurück starrte. „Ich warne euch, bisher habe ich es toleriert, wenn ihr außerhalb der Crew gemordet habt. Ich war nachsichtig. Aber in meiner Crew werde ich das nicht dulden. Ihr kennt meine Regeln. Meine Gesetze. Wenn einer von euch den anderen verletzt, egal wie, wenn einer von euch den anderen umbringt, dann werde ich Gerechtigkeit walten lassen. Schmerz gegen Schmerz. Tod gegen Tod.“
Die Glaswand verschloss sich hinter ihm und seine Gestalt entfernte sich zwischen den leuchtenden Mog. Eine drückende Stille breitete sich in dem kleinen Raum aus. Gibbli hatte keine Ahnung, was sie machen sollte. Als sich die beiden Männer nach einer Weile noch immer nicht bewegt hatten, setzte sie sich auf den Boden und wickelte Abyss‘ Mantel wieder um sich, wie eine Decke. Abyss‘ Mundwinkel zuckten leicht, nur für einen kurzen Augenblick, das war jedoch auch schon das einzige. Sie liebte dieses Ding. Der Stoff war richtig dick und erschien meist schwarz. Doch manchmal konnte man erkennen, dass er leicht ins Bläuliche ging, je nach Lichteinfall wies er ein düsteres Indigoblau oder ein richtig dunkles Preußischblau auf. Seine Farbe.
In den nächsten Minuten beobachtete Gibbli ihn und Steven misstrauisch, wie sie jeweils an der gegenüberliegenden Wand standen, möglichst weit voneinander entfernt und sich gegenseitig niederstarrten. Jeder bereit, sich sofort auf den jeweils anderen zu stürzen. Wie zwei Vulkane, die jederzeit ausbrechen konnten.
„Was für einen Gefallen schuldet er dir?“, fragte Abyss plötzlich, ohne die Augen von Steven abzuwenden.
Gibbli schreckte hoch. Wie viel Zeit war vergangen? Stunden? Die beiden Männer hatten sich noch immer keinen Millimeter bewegt.
„Das, mein Freund, ist eine Sache zwischen mir und meinem Mädchen“, antwortete Steven ihm, bevor Gibbli den Mund aufmachte.
Abyss drehte den Kopf zu Gibbli und sein Blick bohrte sich in den ihren. „Was für einen Gefallen schuldet er dir?“, wiederholte er so bedrohlich, dass ein Frösteln in ihr aufstieg.
Zitternd blickte sie ihn an. Wenn er von ihrem Spiel erfuhr, hielt er sie bestimmt für dumm. Es war so verlockend gewesen, dass Steven ihren Wunsch befolgen würde und überhaupt, der Oceaner hatte ihr ja gar keine andere Wahl gelassen. Dass es sie gleichzeitig an ihn binden würde, war ihr nicht bewusst gewesen. Dieser verdammte Name! Abyss würde das nicht akzeptieren. Er würde durchdrehen, wenn er das erfuhr. Sie trug den Namen seines größten Feindes! Er würde Gibbli hassen!
„GIBBLI! Ich hab dich was gefragt!“, brüllte Abyss und sie fuhr erschrocken zusammen.
„Ein Geheimnis, an das du nicht herankommst.“ Steven lachte und Abyss wandte sich ihm wieder zu. „Du kannst das nicht ausstehen, wenn sie etwas vor dir verschweigt. Nein, das kannst du nicht.“ Jetzt würde er es ihm gleich erzählen, dachte Gibbli panisch. Doch Steven verriet nichts. Beunruhigt blickte der Oceaner nach oben, als das leise Hintergrundtackern erneut verstummte. „Du warst das, Mensch! Nicht wahr? Du bist in den innersten Maschinenraum eingebrochen.“
„Vielleicht war ich das.“ Abyss trat vor. Mit zusammen gekniffenen Augen schnaufte er verächtlich aus. „Vielleicht wurden … aus Versehen ein paar Schalter gedrückt.“
Steven kam hastigen Schrittes auf ihn zu. „Ein paar? Welche Schalter?“
„ALLE Schalter!“, brüllte Abyss ihn an.
„Was hast du getan?“, flüsterte der Oceaner.
„Nun, anscheinend genug, damit sie mich endlich hierher brachten. Technische Geräte machen seltsame Dinge, wenn auf wundersame Weise plötzlich Kabel herausgerissen werden. Manchmal gehen kleine Rädchen kaputt. Weißt du, das kann schon mal passieren, wenn sie einer gewissen gutaussehenden Faust im Weg stehen.“
„Wahahah!“ Steven lachte, dann sagte er ganz ernst: „Wir werden sterben.“
„Na klar. Antworte, du verrückter Narr und lenk nicht ab! Was verheimlicht ihr mir?“
Das leise Tackern setzte wieder ein.
„Ah, wie der Meeresexpress. Er hält an und fährt weiter. Leute steigen ein und aus. Wir bleiben drin, bis er explodiert, oder vielleicht doch nicht? Du willst unser Geheimnis wissen, Mensch? Ich verrate dir nur so viel, wenn … falls wir durch das Portal zurückkehren, geht es erst richtig los.“
Ruckartig schoss Gibblis Kopf hoch. „Wir können zurück? Durch das Portal?“, fragte sie, auch in der Hoffnung, es würde Abyss von dem Spiel ablenken.
Und es funktionierte. „Sagtest du nicht, es führt nur in eine Richtung?“, fragte er Steven gereizt.
„Warum sollte es das? Es wäre unsinnig, so etwas zu bauen, oder? Die Polung lässt sich mit etwas Aufwand und einem Genie, wie ich es bin, umkehren.“
„Du hast uns belogen!“, schrie Abyss ihn sofort an.
„Sicher. Ich bin ja nicht Sky. Ach … Ich bin ja so gemein! Ihr habt mir doch keine andere Wahl gelassen! Seid mit eurer Partygesellschaft in meiner Stadt aufgetaucht, was hätte ich anderes tun sollen als mitfeiern?“ Steven grinste.
Gibbli presste sich beunruhigt an die Wand, als die zwei wieder anfingen, sich gegenseitig anzubrüllen. Sie würde die Männer sicher nicht voneinander fernhalten können, wenn sie sich zum Kampf entschlossen. Abyss warf ihm Schimpfwörter gegen den Kopf und Steven beschwerte sich darüber. Ihre Worte wurden immer lauter. Dann holten beide zum Schlag aus, doch ein Geräusch ließ sie abrupt auseinanderfahren. Auch Gibbli sprang schnell auf. Die Wand öffnete sich und alle starrten gebannt auf die eintretende Gestalt: Kapitän Skarabäus Sky. Mit Zornesfalten auf der Stirn und seinem Strahler in einer Hand. Dieses Mal ohne Mog, er war allein. Seine furchterregenden Augen funkelten ihnen entgegen. Steven trat leise zurück an die Wand.
„Was machst du hier?“, fragte Abyss unbeeindruckt.
„Ich hole meine Technikerin zurück, während mein Kommunikationsoffizier so verflucht dämlich war, sich einsperren zu lassen.“
„Verflucht? Im Ernst, Schimpfwörter aus deinem Mund hören sich gruselig an.“
Sky bückte sich und hob den langen Mantel auf, der von Gibblis Schultern gefallen war. Dann trat er auf Abyss zu.
„Wie wäre es, wenn du endlich lernst, auf deinen Kapitän zu hören und dich mit ihm abzusprechen, bevor du solche blödsinnigen Entscheidungen triffst? Ich hatte sie fast so weit gehabt! Nun, jetzt haben wir ein Problem. Was immer du angestellt hast, dass sie dich hier einsperrten, hat ihre Meinung geändert. Die Mog haben sich entschlossen, Gibbli aufgrund meiner Überzeugungskünste gehen zu lassen. Dich hingegen nicht.“
„Kacke.“
„Ja, Abyss, kacke. Das trifft es gut. Und um es auch in für dich verständlichen Worten auszudrücken“, der Kapitän drückte ihm grob den Mantel entgegen, wobei er Abyss beinahe umwarf, „nimm jetzt dein scheiß Zeug, du verdammter Idiot und folgt mir.“ Sky hob seine Waffe und schon hatte er sich wieder dem Ausgang zugewandt. „Alle. Und zwar schnell.“
Steven lachte hysterisch auf. „Ich mag ihn“, murmelte er dann völlig ernst. Er drehte sich einmal im Kreis herum und sprang dem Kapitän begeistert hinterher.
Gibbli brauchte ein paar Sekunden, um zu begreifen, dass mit Skys Aufforderung auch sie gemeint war. Hastig sammelte sie ihre Werkzeuge auf und verstaute sie. Sie blickte Abyss kurz an. Er stand noch immer düster dreinschauend in der Zelle. Dann beeilte sich Gibbli, um hinter Steven und Sky herzulaufen, die bereits im durchsichtigen Gang draußen um die nächste Ecke schlichen.
„Ja, Sir, Kapitän“, sagte Abyss leise hinter ihr und folgte ihnen genervt.

 

Ihre Flucht durch die glasähnlichen Gänge war beunruhigend ruhig verlaufen. Es schien, als wären die Mog weniger geworden und sie hatten ihnen leicht ausweichen können. Der Kapitän hatte Abyss und Steven befohlen, sich in die Transportkontrollräume zu schleichen. Laut Steven ließ sich von dort aus der Kasten steuern, der sie in großer Höhe an dem dicken Seil stadtauswärts bringen würde. Gibbli wäre gerne mitgekommen, um zu sehen, wie es funktionierte, doch Sky ließ sie nicht mehr aus den Augen. Sie genoss die Stille, während ihre halb durchsichtige Gondel sich über verlassene Gebäude hinweg von der Stadt entfernte. Der Kapitän saß ihr gegenüber in der engen Kapsel. In einer Hand hielt er seine Waffe, in der anderen sein EAG, das er als Lichtquelle verwendete.
„Die werden sich gegenseitig die Köpfe abreißen“, gab Gibbli zu bedenken.
„Vielleicht. Aber wenn er wirklich dabei sein möchte, müssen sie lernen, miteinander auszukommen. Erzähl mir von Steven“, verlangte Sky. Auch wenn er dadurch oft bedrohlich wirkte, mochte Gibbli seine ruhige Art. „Berichte mir, was er dir antat.“
„Nichts.“ Sie wollte nicht über Steven reden. Sie wollte die letzten Tage am liebsten vergessen.
„Sag mir, warum ich dir nicht glaube.“
„Weil ich lüge?“ Mit Ehrlichkeit kam man bei ihm immer weit, das wusste sie mittlerweile, auch wenn es oft unangenehm war.
Seine Mundwinkel zuckten für einen Moment nach oben. „Hätte ich eher gewusst, dass sie euch zusammen einsperren, hätte ich versucht die Mog davon zu überzeugen, euch zu trennen.“
„Die Mog wollten mich umbringen. Er … hat mir das Leben gerettet.“ Das wusste der Kapitän bereits. Aber über Stevens dämliches Spiel würde sie sicher nichts freiwillig preisgeben.
„Die Mog sind im Grunde sehr friedliche Wesen. Emotionslos und kollektiv. Lediglich mit Oceanern kommen sie nicht klar. Und Gewalt. Und Abyss.“
Gibbli lächelte nervös und blickte nach unten. Draußen herrschte Finsternis und von der schwindelerregenden Höhe, in der sich die beiden befinden mussten, war im Inneren des Kastens bis auf das leichte Schaukeln nichts zu spüren. Das hier verlief zu glatt. Sie ahnte, dass irgendetwas nicht stimmte, als würde sich ein Sturm zusammen brauen. Das schwache Grinsen auf ihrem Gesicht erstarb.
„Vertraust du ihm?“, fragte der Kapitän.
Die finsteren Implantate auf sie gerichtet, versuchte Gibbli Skys grimmigen Gesichtsausdruck zu deuten. Wie konnte man jemandem vertrauen, der seine Entscheidungen und Absichten alle paar Augenblicke änderte? Sie zuckte mit den Schultern und ignorierte das kurze Stechen an ihrem Rücken. „Steven ist … er …“
„Verzeihe mir, ich meinte nicht ihm. Vertraust du Abyss?“
Gibbli verstummte. Warum wollte er das wissen? Einige Sekunden verstrichen. „Ja“, sagte sie dann schlicht.
„Abyss ist ein gefährlicher Mann.“ Sky lehnte seinen Kopf gegen die Wand hinter sich und blickte seitlich nach draußen, wo sich die Lichter der Mogstädte immer weiter entfernten. „Es mag ein Zeitpunkt kommen, an dem ich dich nicht mehr vor ihm zu schützen vermag.“
Was meinte er damit? Sky musste sie doch nicht vor ihm beschützen! „Er würde mir nie wehtun.“
„Gibbli, er hat dich bereits verletzt.“
„Er tut mir nichts. Er ist mein bester Freund.“ Sie zog ihre Knie zu sich heran und umschlang sie mit den Armen.
Sky lehnte sich wieder nach vorne. „Ich bin mir nicht sicher, ob Abyss das Wort Freund kennt. Um es klar auszudrücken: Das ist eine Warnung. Vergiss nicht, er spielt mit den Menschen, um zu bekommen, was er will. Das tat er schon immer. Er mag dir vielleicht direkt erscheinen, aber Abyss ist ein guter Schauspieler. Der Beste, den ich je traf. Das ist sein größtes Talent, anderen weiszumachen, jemand zu sein, der er nicht ist. Also wenn es auch nur den geringsten Zweifel gibt, dann muss ich das wissen. Das ist wichtig, denn … es entscheidet, wie ich weiter vorgehe. Ich frage dich noch einmal, bist du dir sicher? Vertraust du Abyss?“
Gibbli fragte sich, um was genau es ihm ging. Abyss plante nichts voraus. Gut, fast nichts. Er war ehrlich. Okay, nein, wohl eher nicht. Aber er beschützte sie und er war wie ein Bruder für sie. Oder? Er mochte ihr Lachen. „Ich vertraue ihm.“
Der Kapitän schien nicht erfreut zu sein, doch er nickte. „Gut.“

 

„Ich will auch so ein Ding“, sagte Gibbli und nickte zum Strahler, den Sky schon die ganze Fahrt über in einer Hand hielt. Die beiden hockten am Boden, nicht weit vom Portal entfernt und warteten auf Abyss und Steven, die hoffentlich mit einem weiteren Kasten bald ankommen sollten. Sicher war den Mog ihr Verschwinden bereits aufgefallen, doch komischerweise hatte sich ihnen noch keiner in den Weg gestellt und hier draußen, so weit außerhalb der Stadt wirkte alles wie ausgestorben.
„Laut meinen Unterlagen wirst du am 31. Oktober fünfzehn“, murmelte der Kapitän mit seiner rauen Stimme. „Nach den Regeln der Akademie dürftest du also erst in über einem Jahr an den fortgeschrittenen Kampfkursen mit Schusswaffen teilnehmen. Du kannst noch nicht damit umgehen.“
„Bring es mir bei.“ Gibbli hatte dieses ständige eingesperrt werden satt. Sie wollte sich endlich wehren können!
Sky beobachtete, wie sich ein zweiter Kasten aus der Ferne näherte. „Ich bin kein Lehrer.“
Sie blickte zu ihrem linken Stiefel hinab, in dem Abyss‘ Klinge steckte. „Der Kampf mit einem Messer ist weitaus gefährlicher als ein Strahler.“
Sky seufzte. „Meinetwegen. Besser ich, bevor Abyss es tut und dabei aus Versehen ein Arm abgeschnitten wird. Wenn wir zurück auf unserem Planeten sind. Falls wir zurückkehren.“
Gibbli nickte zufrieden. Einer der bedeutendsten Männer der Elite würde ihr Kampfunterricht geben. Würde er nicht im ganzen Meer gesucht werden, wären ihre Eltern sicher erfreut darüber gewesen.
Sky sprang auf, als der Kasten anlegte. „Und wenn sich die beiden in diesem Ding nicht zerfleischt haben“, fügte er hinzu.
Abyss und Steven stiegen nicht sonderlich fröhlich aussehend aus, aber noch mit ihren Köpfen an der richtigen Stelle sitzend. Der Oceaner hopste voran. Gibbli wich sofort von ihm zurück, als sie seinen Einfluss spürte. Er schien es ebenfalls bemerkt zu haben, sah sie an und zog kurz die Augenbrauen hoch. Dann grinste er. Mit einem unguten Gefühl im Bauch trat sie einen weiteren Schritt zurück.
Abyss schubste Steven beiseite und stapfte an ihm vorbei zu Gibbli und dem Kapitän. „Lass mich seine Hand abschneiden, Sky!“, waren seine ersten Worte. „Bitte, nur einen kleinen Finger, den braucht er doch nicht. Er spreizt sie immer so komisch ab, ich mag das nicht!“
„Wir schneiden keine Stücke von Leuten ab, nur weil wir sie nicht mögen, Abyss“, belehrte ihn der Kapitän. „Außer, sie schneiden dir etwas ab, dann hast du meine Erlaubnis.“
„Was soll das heißen, ihr mögt mich nicht?“, fragte Steven aufgebracht, während er dem düster dreinblickenden Abyss folgte. „Ihr liebt mich! Ihr müsst mich lieben, ICH bin ein Genie!“
Sky ging nicht auf ihn ein. Kurz vor der Kugel blieb er stehen und gab Steven den Befehl, die Polung des Portals umzukehren.
„Sie folgen uns noch immer nicht“, sagte Gibbli beunruhigt. Sie konnte nicht glauben, dass die Mog sie so einfach gehen ließen.
Abyss stand mit gezogenem Messer neben Sky und suchte mit wachsamem Blick die Umgebung ab. „Vielleicht können die sich nicht einigen, ob sie links oder rechts abbiegen, um uns zu folgen und brauchen ein paar Stunden, um das auszudiskutieren.“
„Hinab in die Tiefe, immer weiter, immer weiter“, murmelte der Oceaner und wischte fröhlich auf einer Konsole ein paar Zahlen beiseite, in denen Gibbli Positionsangaben zu erkennen glaubte. „Sie sind abgelenkt, oh ja, das sind sie.“
Abyss grinste und stimmte ihm überraschenderweise zu. „Ja.“
Stirnrunzelnd sah Sky ihn an, als erwarte er eine Erklärung. Abyss setzte zu einer Antwort an, doch Gibbli kam ihm zuvor.
Sie deutete auf einen metallfarbenen Seitengang. „Die Mog kommen!“
Sky und Abyss erhoben ihre Waffen, während Steven sich mit emotionslosem Blick umdrehte. Ein quirliger Leuchtkörper erschien in der Öffnung. Mit schlängelnden Bewegungen schwebte er auf sie zu. Gibbli erwartete weitere Wesen aus dem Gang, doch niemand folgte ihm. Es handelte sich lediglich um einen einzelnen Mog. Er schwirrte näher und schwenkte mit dem Kopf.
„Was-“, begann Abyss und seine Hand zuckte plötzlich zurück. Mit schmerzverzerrtem Gesicht ließ er das Messer los, das noch im Fallen zu einer silbrigen Masse schmolz und sich auflöste.
Dann wandte sich der Mog Sky zu. Doch offensichtlich verspürte das Wesen im Kapitän keine Gefahr, denn die Waffe in seinen Fingern, die bedrohlich auf ihn zeigte, ließ es kalt. Ein schräges Geräusch zischte durch die Luft. Gibbli war versucht, sich die Ohren zuzuhalten.
„Steven, übersetze das!“, befahl Sky.
Der Oceaner wandte sich ihm zu. „So langweilig. So gerecht. So fair. Nur nicht für den lieben Steven. Nein, nein, nein, nicht für Steven.“
„Steven!“, fuhr der Kapitän ihn an.
„Ich liebe diesen Namen, oh ja. Es sagt, die Mog erlauben euch zu gehen, wohin immer ihr wollt, Kapitän. Dir und meinem Mädchen. Sollte jemand anderes das Portal betreten, werden sie es nehmen, wie das Messer des gemeinen Menschen.“
„Sag dem Mog, dass ich nicht ohne meine gesamte Crew-“
„Was heißt die Menschenwelt ist verschoben?“, warf Abyss ein, bevor Sky den Satz zu Ende sprechen konnte.
Steven blickte Abyss überrascht an. „Das ist beeindruckend, Mensch meines Mädchens! In so wenig Tagen begreifst du bereits Bruchstücke der Mog Sprache?“
„Was meint dieser Leuchtfuzzi damit?“, knurrte Abyss. Gibbli war sich sicher, wenn Steven noch einmal das Wort Mädchen erwähnte, würde er ihn aufessen.
„Keine Wörter sind es, nein, sie kennen keine Buchstaben, nur Töne und Frequenzen.“
„Lenk nicht ab!“
„Wovon, Mensch? Davon, dass deinetwegen dieser Planet auseinanderfallen wird? Wirklich gut gemacht, ja das hast du.“
Richtig, erinnerte sich Gibbli. Abyss hatte die Maschine zerstört, welche die beiden Hälften der Tag- und Nachtseite zusammen hielt. Die Mog würden ihn niemals gehen lassen.
„Der Planet wird … was?“, fauchte Sky. „Abyss, was hast du-“
Steven lachte und wieder unterbrach Abyss den Kapitän: „Beantworte die Frage, dämlicher Goldhaufen!“
„Steven?“, fragte Gibbli leise dazwischen. Sie bemerkte Sky, der die Arme verschränkte, einen Schritt zurücktrat und ungläubig den Kopf schüttelte.
„Mog reden Unsinn. Höre nicht auf sie, nein, niemals, hört auf Steven, hört auf mich.“
„Steven“, sagte Gibbli erneut.
„Du bist ein Verräter deines Volkes“, fuhr Abyss ihn an.
„Nein, nein, nein, ich liebe das Leben! Ich lebe. Richtig, ja das tue ich. Die Mog verstehen das nicht! Nun, es liegt wohl auch daran, dass ich mich weigerte, deinen Schaden zu reparieren.“
„Diese dämlichen Leuchtfuzzis erschaffen Materie. Die können alles, warum sollen sie die Hilfe deiner hässlichen Fratze dazu brauchen?“
„Steven!“, rief Gibbli.
„Materie erschafft man nicht, du beschränkter Mensch! Mog verschieben und ziehen die Frequenz der Materie in den Ebenen. Das bedeutet nicht, dass sie wissen! Es ist zum Teil Oca Technologie. Materielle Dinge sind kompliziert. Ich musste lange lernen, um es zu verstehen. Aber ich schaffte es. Ich bin der schlauste, größte, stärkste und-“
Abyss spuckte ihm auf den Kopf. „Das können nur Leute die größer sind als du.“
Der Oceaner fuchtelte wild mit den Armen in der Luft herum und fuhr entsetzt immer wieder über seine goldenen Haare. „Ich sterbe! Tu es weg! Ich verfaule, ich merke es schon! Wah! Mach es weg, du ekliger Fleischberg!“
Gibbli atmete tief ein und packte den Oceaner. „Steven! Jetzt hör mir endlich zu!“
Abyss verzog sofort die Augen zu Schlitzen und Gibbli spürte seinen wütenden Blick auf sich. Doch der Oceaner hielt inne und wandte sich ihr zu.
„Sag ihnen, ich repariere es.“
„Mein Mädchen will es richten?“, fragte Steven interessiert.
„Ja! Sag ihnen, ich repariere es, wenn sie dich und Abyss gehen lassen. Wenn sie uns alle zusammen durch das Portal gehen lassen.“
Das leuchtende Wesen gab ein schräges Geräusch von sich.
„Das Ding ist einverstanden“, sagte Abyss, während er noch immer Gibblis Finger fixierte.
Hastig ließ sie Steven los. Das ging schnell, dachte Gibbli. Der einzelne Mog hatte sie verstanden und sofort zugestimmt. Diese Wesen waren nicht langsam, sie brauchten nur immer so lange, um sich zu einigen und mit einer Stimme zu sprechen. Gibbli zögerte. Sollte sie jetzt einfach mitgehen?
Abyss betrachtete den Mog misstrauisch und blickte sich fragend um. „Kapitän?“
„Ach, jetzt bin ich plötzlich wieder Kapitän. Ich existiere also wieder.“
„Kapitän, ich kann auch-“
„Schweig“, unterbrach Sky den Oceaner. „Du arbeitest weiter am Portal. Wenn wir zurückkommen, will ich, dass es fertig eingestellt ist. Und du“, er schlug genervt gegen Abyss‘ Schädel, „kommst mit. Gibbli.“ Sky deutete ihr mit einer Kopfbewegung dem Mog zu folgen, während er selbst sich schon in Bewegung setzte. Abyss und Gibbli beeilten sich, ihm und dem Wesen hinterherzulaufen. Dieses führte sie durch die gläsernen Gänge und in eine Kapsel, welche sie dieses mal nicht geradeaus, sondern weit hinab in die Tiefe beförderte und dann durch weitere Gänge. Schweigend standen sie in einer zweiten Gondel, die sie tief in den Planeten hinein brachte.
„Lektion Menschenkenntnisse“, flüsterte Abyss ihr plötzlich ins Ohr, als sie unten ankamen. „Was habe ich dir über Leute erzählt, deren Adern an den Schläfen so deutlich hervortreten wie seine gerade?“
Gibbli bedeutete ihm still zu sein, denn Skys Finger knackten bedrohlich.
„Na los, sag schon.“ Abyss blickte sie im Gehen auffordernd an. „Was meinst du, ist er verwirrt, wütend, hungrig?“
Sie unterdrückte ihr Lächeln, als der Kapitän stehen blieb. Er zog seinen Strahler und Gibbli wich einen Schritt zurück.
„Weitere Lektion in Menschenkenntnissen.“ Sky hob den Arm und drückte die Seite seiner Waffe fest gegen Abyss‘ Stirn. „Wenn man keine Löcher in Gehirnen haben möchte, sollte man wütende Menschen besser nicht weiter provozieren und sie-“
„Du an meiner Stelle hättest es auch getan!“
„Schweig! Ich warne dich ein letztes Mal, sei froh, dass ich es war und dass ich auf diese Gerechtigkeit verzichte und dich nicht-“
„Sky, du wüsstest gar nicht, wie-“
„Ich schwöre dir, wenn du mich heute noch einmal unterbrichst, wird das weder dir noch Jack gefallen!“
Abyss‘ Grinsen erstarb. „Das wagst du nicht.“
„Hör auf, meine Befehle zu missachten, oder ich werfe dich in einen noch tieferen Abgrund als den, in dem du sowieso schon drin steckst.“
Abyss fletschte die Zähne, starrte ihn düster an und schwieg. Sky wandte sich von ihnen ab. Gibbli hatte nicht verstanden, was er damit meinte, doch sie wagte es nicht, etwas zu sagen. So grimmig wie die Männer dreinblickten, wollte sie keine Aufmerksamkeit erregen. Sie schwiegen den ganzen restlichen Weg über. Und je weiter die drei hinabstiegen, desto mehr Mog begegneten ihnen. Offensichtlich befanden sich die meisten in den Räumen um die zerstörte Maschine herum.

 

Um sie herum wuselte es nur so von Mog. Blinkende Lichter signalisierten unterbrochene Warnmeldungen. Aus einigen der goldenen Leitungen hinter durchsichtigen und größtenteils zerbrochenen Abdeckungen stoben Funken.
„Da hat sich wohl vielleicht zufällig ein Kabel gelöst“, sagte Gibbli und betrachtete ungläubig den großen Raum. „Oder zwei.“
„Oder zweihundert“, gab Sky mit rauer Stimme zurück. „Ich frage mich, woher du diesen ganzen Sprengstoff nimmst, Abyss.“
„Die hatten was, was mir gehört“, murmelte er kaum hörbar, als wäre das eine Erklärung dafür.
Bomben basteln war wirklich eine seiner Spezialitäten, dachte Gibbli. Mit einem mulmigen Gefühl betrachtete sie das Chaos. Das hier waren mindestens fünf größere Explosionen gewesen. „Was hast du dir dabei gedacht?“, fragte sie leise und kannte gleichzeitig die Antwort.
Den Mog war es gelungen, bereits einen Großteil von Abyss‘ Deinstallationen, wie er die kleinen Schrottbrocken so liebevoll bezeichnete, zu reparieren. Dennoch steckten einige Leitungen nicht dort, wo sie sein sollten. Gibbli packte unter dem überwachenden Blick des Kapitäns ihr Werkzeug aus. Ein Teil davon war aufgrund ihres ersten Fluchtversuchs nicht mehr verwendbar. Doch sie fand alles Nötige unter den oceanischen Geräten. Konzentriert machte Gibbli sich an die Arbeit. Sie hatte keine Ahnung von all dem hier, aber sie erfühlte die zusammengehörigen Leitungen sofort. Abyss zeigte ihr weitere zerstörte Stellen und übersetzte einige der oceanischen Texte. Dann sah er ihr schweigend zu. Gibbli versuchte, die sich schlängelnden Mog um sie herum zu ignorieren. Die Wesen sprachen hin und wieder und jedes Mal bekam sie eine Gänsehaut bei den schrägen Klängen ihrer Stimmen.
„Ich stelle mir gerade vor, wie du hier breitbeinig stehst, den Mog fröhlich zuwinkst und dann alles kurz und klein schlägst, in der Absicht gesehen zu werden“, sagte Sky. „Du besitzt ein Talent dafür, eingesperrt zu werden.“
Abyss zuckte mit den Schultern. Es hatte jedenfalls gut funktioniert, dachte Gibbli und schloss ein paar Drähte an. Er hatte genau das erreicht, was er wollte.
„Dafür nimmst du die Vernichtung eines ganzen Planeten in Kauf.“
Abyss blickte den Kapitän nicht an, als er knapp antwortete: „Ja.“
Sky schüttelte den Kopf. „Das ist krank.“
Während Gibbli an der Maschine herum schraubte und verschiedene Teile ersetzte, drang in ihr Bewusstsein, was Abyss hier eigentlich getan hatte. Was er beabsichtigt hatte zu tun: Millionen von Mog, sie alle und sich selbst vernichten, einen ganzen Planeten auseinanderbrechen lassen, nur ihretwegen. Das war kein harmloser Streich und langsam konnte sie Skys Wut nachvollziehen und auch seine Warnung. Aber Abyss hatte es ihretwegen getan. Nur um sie noch ein einziges Mal zu sehen. Ein kleines Lächeln stahl sich auf ihr Gesicht, während sie weiter arbeitete.

 

Es dauerte nicht länger als drei Stunden, um die Maschine zu reparieren. Dennoch kam es Gibbli wie eine halbe Ewigkeit vor, bis das Tackern wieder regelmäßig und ohne Unterbrechung einsetzte. Eigentlich hatte sie gar nicht so viel machen müssen. Die Mechanismen waren simpel doch effektiv. Gibbli verstand nicht, warum die Mog damit solche Probleme hatten. Offensichtlich fiel es ihnen wirklich schwer, mechanische, materielle Vorgänge zu begreifen. Und es waren hauptsächlich diese oceanischen Teile der Technologie, die Abyss erwischt hatte.
„Ich frage mich, wo du das gelernt hast. In der Akademie sicher nicht“, meinte der Kapitän mit rauer Stimme, als sie sich bereits auf dem Rückweg befanden.
Er sah sie an, als würde er eine Antwort erwarten. Doch was sollte sie sagen? Unbehaglich wich Gibbli seinem Blick aus und murmelte: „Man muss sich dafür nicht wirklich auskennen, sondern einfach nur die Frequenzen zusammenbringen, die zusammen gehören.“
„Ich verstehe nicht ganz, wovon du sprichst.“
Gibbli zuckte mit den Schultern. „Naja, wenn sie falsch sind, dann fühlt sich das schräg an, oder?“
Sie war sich nicht sicher, ob sie es wirklich verständlich ausgedrückt hatte, aber Sky nickte. „Du hast das gut gemacht.“
Die Mog ließen die drei ungehindert gehen und hielten sich an die Abmachung. Die Umgebung, um das Portal herum, schienen sie sowieso möglichst zu meiden. Es befand sich außerhalb der Stadt und die Abschirmung der oceanischen Technologie reichte nicht bis dort hin. Schweigend stiegen sie in die Kapsel, die sie wieder hinauf bringen sollte.
„Abyss“, sagte Sky. „Hör auf damit.“
„Okay.“ Er nickte, ohne ihn anzusehen. „Ich höre auf damit, Planeten in die Luft zu jagen.“
Der Kapitän verschränkte die Arme. „Du weißt, was ich meine. Denk nicht dran.“
Abyss schwieg.
Gibbli lehnte sich an die gläserne Wand. Sie spürte, wie sich die Kapsel nach oben bewegte. Weg von den Mog. Endlich fort von ihnen.
„Sky, du solltest wissen, dass er was verschweigt“, sagte Abyss nach einer Weile leise. „Der Mog vorhin meinte, dass wir alle sterben, wenn wir zurückkehren. Nur darum stimmte er so schnell zu. Er denkt, unser Planet existiert nicht mehr.“
Sky dachte einige Sekunden nach und das Tackern der reparierten Maschinen drang in ihre Ohren. „Vielleicht meinte der Mog diesen Planeten, nicht unseren. Eine Vernichtung, so unvorstellbar groß … Wie hättest du je mit dieser Schuld leben können?“
„Gar nicht. Ich hätt ja nicht mehr gelebt.“
Gibbli bemühte sich, ihren brennenden Rücken zu ignorieren und schloss erschöpft die Augen.
„Dank deines wahnsinnigen Plans sind jetzt nicht nur wir frei, sondern auch Steven“, sagte Sky, als die Kapsel anhielt.
Mürrisch schnaufte Abyss aus. „Musst du es mir auch noch reinwürgen?“
„Komm mit ihm klar. Denn er ist jetzt ganz offiziell Mitglied meiner Crew.“
„Warte, du hast das ernst gemeint? Wir stopfen ihn nicht in eine dieser fahrenden Kapseln und schneiden dann das Seil durch?“, fragte Abyss, als wäre er fest davon ausgegangen, dass sie das tun würden.
„Mittlerweile solltest du mich so gut kennen, dass du weißt, dass ich alles ernst meine, was ich sage.“

 

„Wir kommen sicher durch?“, fragte Sky und umschloss Gibblis Oberarm mit seinen Fingern, während sie zusammen auf das Portal zutraten.
„Natürlich. Ich habe die Polung neu justiert“, antwortete Steven mit fester Stimme. „Ich bin so gut.“ Er hob den Kopf, blickte kurz Gibbli an und dann zu Abyss, der neben ihm stand. „Spürst du ihre Eiseskälte? Die Meermenschen eures Planeten scheinen dagegen immun zu sein. Aber wir Oca gleichen euch Landmenschen sehr. Die Begrenzer der Mog auf eurem Planeten habe ich vor langer Zeit vernichtet. Sie störten mich.“
„Du störst mich! Hör auf, mir die Scheiße, die du Worte nennst, an den Kopf zu werfen!“ Abyss hob seine heile Hand und hielt ihm Daumen und Zeigefinger vors Gesicht. „Ich bin so kurz davor, dir den Schädel einzuschlagen.“
Steven lächelte nur und blickte ihn mit unveränderter Miene an. „Verschone mich mit deinem Geblubber, Mensch. Was ich damit sagen will, wenn wir durch sind, musst du mich von ihr fernhalten.“ Ohne eine Antwort abzuwarten, schritt er mitten in die dunkle Kugel hinein.
Abyss wandte kurz den Kopf zu Sky um, dann folgte er dem Oceaner. Hinter ihm traten der Kapitän und Gibbli zusammen in das Portal.

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