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Kapitel 7: Ein Bruder (Bis in die tiefsten Ozeane)

Heftiger Schmerz riss sie aus ihrem unruhigen Schlaf. Jemand packte Gibbli an den Haaren und zog sie nach oben. Gibbli sah nicht, wer es war. Sie wollte schreien, doch durch die Gitter hielt er ihr den Mund zu. Langsam wurde ihr bewusst, dass sie sich noch immer in Zelle 17 der Meeresakademie befand. Und diese Pranken, die an ihren Haaren herumzerrten, das musste ein anderer Gefangener aus der Nachbarzelle sein.
Er stopfte ihr einen stinkenden Fetzen Leder in den Mund und band ihren Kopf damit gleichzeitig an den Gitterstäben fest. Panisch fasste sie mit beiden Händen an das Leder, zog daran und versuchte mit aller Kraft, den Knebel loszumachen. Die lange Schnittwunde ging dabei schon wieder auf und frisches Blut rann über das bereits getrocknete an ihrem Arm.
Der Mann drückte sie zu sich heran und Gibbli spürte, wie sich seine dreckigen Hände um ihre Brüste legten. Er stank nach verfaultem Obst.
„Hmmpf …“ Sie wand sich in seinem Griff und hielt inne, als sie plötzlich in Abyss‘ ausdruckslose Augen starrte. Er stand direkt vor ihr, so nah, dass sie sogar ein paar seiner Sommersprossen erkennen konnte, die sich in der spärlichen Beleuchtung kaum sichtbar von seiner blassen Haut abhoben. Gibbli wollte ihren Blick von ihm abwenden und versuchte verzweifelt sich zu befreien. Er spannte die Muskeln an und hob seinen Arm. Dann sah sie Abyss‘ Faust direkt auf sich zukommen. Schnell. Tödlich.
Sie schoss nur Millimeter an ihrer Stirn vorbei, durch die Gitterstäbe, in das Gesicht ihres Peinigers. Dieser lockerte sofort seinen Griff, heulte auf und fiel nach hinten. Dem knackenden Geräusch nach zu urteilen, war nicht nur seine Nase gebrochen. Abyss wollte ihr helfen, sich zu befreien, aber Gibbli war schneller. Endlich lockerte sich der Stoff. Sie schlüpfte hindurch, vorbei an seiner großen Gestalt und ließ sich an der Außenwand nieder, wo er zuvor gelegen hatte. Eine feste Wand, ohne andere Gefangene dahinter.
Abyss kniete sich vor ihr nieder. Er streckte seine Hand aus und fuhr sanft über ihr Gesicht. Gibbli zuckte zusammen, sah ihn jedoch nicht an.
„Schhht ruhig. Schau mich an.“
Mit zusammen gekniffenen Augen schüttelte sie den Kopf. Geh weg, dachte sie verzweifelt. Doch er ging nicht.
„Du siehst verdammt jung aus, Gibbli. Wie alt bist du?“
„21“, flüsterte sie, ohne den Kopf zu heben. Gleichzeitig hätte sie sich selbst ohrfeigen können für diese Lüge. Wie krank war das denn? Er ist ein Verbrecher! Dennoch hatte sie irgendwie das verrückte Gefühl, diesen Kerl beeindrucken zu wollen. Sie durfte keine Schwäche zeigen, so wie es an der Akademie gelehrt wurde. Außerdem musste sie ja irgendwas erwidern. Ihr war klar, dass Abyss eine Antwort aus ihr herausprügeln würde. Dieser Mann mochte es nicht, wenn man schwieg.
„Nein verdammt, bist du nicht!“ Bedrohlich zog er seine hellen Augenbrauen zusammen und kam näher auf sie zu, bis sie jedes einzelne Haar auf seinem Gesicht erkennen konnte. „Du bist anders als alle, die mir zuvor begegnet sind. Ich würd am liebsten in deine Haut beißen und sie mir auf der Zunge zergehen lassen, wie Schokolade. Etwas an dir wirkt so anziehend, dass ich mich zurückhalten muss, um nicht sofort alle Klamotten von deinem zerbrechlichen Körper zu reißen. Kannst du dir vorstellen, was ich mit dir anstellen würde, wenn du eine ausgewachsene Frau wärst?“
Gibbli zuckte erneut zusammen.
„Natürlich kannst du“, rede er weiter. „Dennoch willst du mir weismachen, dass du volljährig bist. Wieso?“
Sie wollte kein Kind mehr sein. Sie wollte diese elitäre Akademie verlassen, in der beinahe jeder einzelne Schritt einem Befehl gleichkam und endlich eigene Entscheidungen treffen. Vor allem aber, wollte Gibbli sich nicht vorschreiben lassen, diesen dummen Tauchkurs zu besuchen.
„Lüg mich nicht an, Gibbli. Schau mir in die Augen und sag mir, wie alt du bist.“
Sie bewegte sich nicht.
„SCHAU MICH AN!“, schrie er, seine Hand noch immer knapp neben ihrem Gesicht, berührte sie allerdings nicht mehr.
Gibbli hob langsam den Kopf und sah ihm zum ersten Mal direkt in die Augen. Es stach irgendwie in ihrem Kopf, das war ungewohnt. Es war komisch. Wie konnten Menschen sich nur in die Augen sehen, sie schaffte das nicht. Gleichzeitig faszinierten sie diese hellblonden Wimpern und schienen sie geradezu zu hypnotisieren. Als wäre er ein böser Magier, der einen Zauber auf sie wirkte, doch Gibbli wusste, dass es so etwas nicht gab. Und Zaubertricks waren im gesamten Landmenschengebiet sowieso verboten.
„Vierzehn“, sagte sie leise und senkte den Kopf schnell wieder. Sofort ließ das seltsame Gefühl in ihr nach.
Abyss wirkte zufrieden und wich ein Stück zurück.
„Und du gehst auf die Meeresakademie?“, fragte er, während er ein sauberes Tuch aus seiner Hose hervorzog. Es erinnerte Gibbli an einen Polierlappen.
Sie nickte.
„Streck deine Hand aus.“
Gibbli drückte sich näher an die Wand.
„Schon gut“, sagte er, „ich berühr dich nicht.“
Einige Sekunden verstrichen, dann tat sie es. Zögerlich streckte sie ihm ihren Arm entgegen.
„Siehst du?“ Überrascht folgte Gibbli den geschickten Bewegungen seiner langen Finger. Er band das Tuch vorsichtig um die Schnittwunde, ohne sie dabei anzufassen. Er meinte es ernst. Er war ehrlich. Jedenfalls im Moment.
Abyss setzte sich neben sie an die Wand und schwieg.
In ihrem Kopf drehte sich alles. Wer war dieser gigantische Mann? Wie konnte er in einem Moment so freundlich sein und dann im nächsten so erschreckende Dinge sagen? Seine unberechenbare Art verursachte ihr eine Gänsehaut. Doch Abyss achtete auf sie, dieser Verbrecher hatte sie tatsächlich vor diesem ekligen Idioten aus der Nachbarzelle gerettet.
„Ich dachte, du bist böse“, flüsterte sie nach einer Weile. Sie wusste nicht warum, es war ihr einfach herausgerutscht.
Abyss bewegte sich nicht. „Das bin ich“, sagte er mit geschlossenen Augen, als wäre es selbstverständlich.
Es stimmte. Immerhin hatte er sie mit einem Messer bedroht. Und er hatte zugeschlagen und diesem Mann aus der Nachbarzelle sicher einige Knochen gebrochen. Aber nur, um sie von seinen dreckigen Fingern zu befreien. Andererseits war Abyss ebenfalls ein Gefangener. Er musste etwas Schlimmes gemacht haben, sonst säße er nicht hier. Gibbli musterte ihn vorsichtig und erkannte den kleinen Kratzer an seinem Hals von ihren Fingernägeln. Neben der Narbe, die sich darunter erstreckte, fiel er gar nicht groß auf.
„Damals wollte ich immer hier her“, fuhr Abyss auf einmal fort.
Wovon redete er? Er wollte ins Gefängnis?
„In die Meeresakademie.“
Achso. Die Akademie ist nicht so schön, wie du annimmst, dachte Gibbli, traute sich allerdings nicht, es laut auszusprechen. Sie konnte ihn nicht einschätzen und erwartete jeden Moment, dass er über sie herfallen würde. Er öffnete die Augen und sah sie wieder an. Gibbli blickte schnell weg.
„Ich wette, euer Volltrottel von Direktor hat den Verstand eines Toasters“, sagte er grinsend.
Kurz verschwand Gibblis Angst. Seine Aussage brachte sie zum Lächeln, nur für einen winzig kleinen Moment. Sie lachte fast nie und schon gar nicht so, dass es jemandem auffiel. Aber er schien es bemerkt zu haben und wandte sich ihr zu. Sofort fühlte sie sich wieder unwohl.
„Warum bist du hier?“
Gibbli schwieg. Was interessierte ihn das? Das war lächerlich! Ein Verbrecher im Gefängnis, mit dem sie über ihre kindischen Probleme reden sollte?
„Erzähl‘s mir“, hakte er nach. „Jeder hier hat was Verbotenes gemacht, du musst dich nicht schämen.“
„Ich hab nichts Schlimmes gemacht!“, entfuhr es ihr.
„Klar. Deswegen sitzt du ja auch im Gefängnis.“ Er grinste. „Gibbli, du musst dich nicht rechtfertigen, schon gar nicht vor mir.“
Gibbli sagte nichts. Diese Situation war so absurd. Sie war keine Verbrecherin! Sie war doch nur … neugierig. Sie mochte diese Technologie eben!
„Du bist kein Mensch, der viel redet. Und auch kein Mensch, der oft lacht. Ich seh’s an deinem Gesicht. Aber gerade eben, vor ein paar Sekunden, hast du kurz gelächelt. Das war schön. Ich will dich zum Lachen bringen. Ich glaube, ich werde dein Lachen mögen, Gibbli.“
Sie wich ein Stück vor ihm zurück. Jetzt wurde er noch unheimlicher. Er kannte sie ja gar nicht! Und dennoch strahlten seine Worte eine Wärme aus, wie sie sie noch nie gefühlt hatte. Er mochte ihr Lachen?
„Niemand mag irgendetwas an mir.“
„Dann wird es Zeit, das zu ändern“, gab er zurück.
Verdammt, hatte sie das schon wieder laut ausgesprochen? Was machte er mit ihr? Jeder meckerte nur an ihr herum. Ihren Eltern war ihre Leistung nie gut genug. Ihre Mitschüler fanden sie gruselig und ihre Lehrer zu still. Alles, was sie sagte, war falsch und nie fand sie die richtigen Worte, so sehr sich Gibbli auch anstrengte. Warum mochte er ihr Lachen? Ihr Misstrauen kehrte zurück. Er manipulierte sie. Bestimmt. Irgendetwas stimmte nicht mit ihm. Vielleicht befand sich hier irgendwo eine versteckte Kamera. Ein Streich? Nein. Das hier war real. Der Schmerz war real. Sie befand sich hier unten, gefangen. Mit ihm.
„Ich biete dir die Gelegenheit, einmal in deinem Leben frei zu sprechen. Was immer du auf dem Herzen hast. Komm schon, Gibbli. Ich bin ein Verbrecher. Ein Mörder. Ein … was auch immer sie mir vorwerfen. Wem sollte ich es schon erzählen?“
Gibbli schwieg. Er war verrückt. Er war wirklich verrückt! Abyss lehnte sich zurück an die Wand und schloss die Augen. Sofort atmete Gibbli wieder etwas ruhiger. Und dann begann er zu reden.
„Als ich 5 Jahre alt war, herrschte Chaos an der Küste. Die Luft war stickig, kaum noch atembar. Und wir träumten von den sauberen Städten unterm Wasser. Nur die Reichen konnten es sich leisten, ins Meer zu fliehen. Wir hatten nicht mal das Geld uns so ein blödes Ticket zu kaufen für die Verlosung der letzten Plätze. Doch meine Eltern gaben nicht auf. Sie schlichen sich mit mir an den Soldaten vorbei, zu den Gondeln. Ich hasse diese Dinger. Damals existierte der MA-Express noch nicht. Kein Zug. Es war eine Art Seilbahn, die bis an den Grund führte, nach Noko, zur ersten Unterwasserstadt. Von dort aus konnte man mit kleinen U-Booten weiter reisen. Zu anderen Städten, zur Akademie, wohin immer man wollte. Freiheit.“
Er hielt kurz inne. Gibbli starrte ihn an und ihre Neugier war geweckt. Fast vergaß sie das schmerzhafte Pochen an ihrem Arm unter seinem Tuch.
„Das Meer bedeutete für uns Leben. Wir schafften es bis kurz vor den Einstieg. Eine der letzten Gondeln fuhr langsam an. Sie war leer. Kannst du dir das vorstellen? Niemand hatte das Geld aufgebracht und statt so viele wie möglich zu retten, ließen sie das verdammte Ding einfach leer. Dann stellten sich uns die Soldaten in den Weg. Das ist jetzt beinahe 25 Jahre her und ich höre ihre Worte noch immer. So deutlich, als wenn es gestern gewesen wäre.
Meine Mutter weinte: ‚Nehmt wenigstens den Jungen, er ist erst fünf!’ Und mein Vater hob mich hoch und rannte mitten durch diese Idioten hindurch. Meine Mutter wollte uns nach und die Soldaten schossen. Ich sah, über die Schultern meines Vaters hinweg, wie sie fiel.
Wir standen direkt vor einer der Gondeln, dann trafen sie auch ihn in den Rücken. Er setzte mich ab, schubste mich weg und stürzte dann zu Boden. Währenddessen schrie er: ‚Geh da rein, Aaron!’“
Abyss lachte gequält auf.
„Das waren seine letzten Worte. Und die Gondel, in die er mich geschoben hatte, schloss sich. Durch die Fenster sah ich meine Eltern. Wie sie da lagen, leblos. Tot.
Ich schrie. Ich trommelte an die Scheiben, wollte raus. Dann tauchte sie unter.“
Wieder machte er eine Pause und Gibbli hing mit halb geöffnetem Mund an seinen Worten, als er leise weiter sprach.
„Selbst wenn man sie nicht erschossen hätte, wären sie bestimmt beim Vulkanausbruch gestorben. Die giftigen Gase hätten ihnen den Sauerstoff geraubt. Der Vulkan bricht alle paar Jahre aus. Schon in den nächsten Tagen soll‘s wieder so weit sein. Oder vielleicht ist es schon passiert. Keine Ahnung. Hab schon eine Weile nichts mehr mitgekriegt, ich weiß es nicht.
Natürlich war ich nicht für die MA vorgesehen. Diese Drecksäcke ließen mich nicht auf die Akademie. Ich war allein und überhaupt hätte ich gar nicht hier unten sein dürfen. Aber ich hatte Hunger. Also stahl ich mir einfach, was ich brauchte. Ich war kein guter Dieb, deswegen lernte ich mit den Leuten zu spielen. Sowohl mit Meermenschen als auch mit den Landmenschen. Im Sprachenlernen besaß ich Talent. Warum was mühevoll stehlen, wenn man es so viel einfacher haben konnte? Ich erweckte ihr Mitleid. Dachte mir Geschichten aus. Wer konnte einem kleinen, unschuldigen Jungen schon was abschlagen? Und als ich zu groß dafür wurde, bedrohte ich sie. Ich bestach sie. Ich erpresste, betrog und verletzte sie. Was auch immer nötig war, um das zu kriegen, was ich wollte. Mir stand die ganze Welt im Wasser offen. Und irgendwann fand mich jemand, der mich aufnahm. Ein Mönch. Er sah über meine … kleinen Verbrechen hinweg und ließ mich bei sich wohnen. Besorgte mir sogar einen Ausweis. Aber da war es schon zu spät. Ich bin, was ich bin.“
Abyss verstummte. Und Gibbli fragte sich, warum er ihr all das erzählte. Er schaute sie jetzt wieder an und Gibbli blickte schnell zu Boden.
„Ich bin kein guter Mensch. Ich bin ein Lügner. Ich bin ein Betrüger. Und ich töte, wenn es sein muss. Das ist ein Grund, jemanden einzusperren. Warum hat man dich eingesperrt, Gibbli?“
Sie begriff. Darum ging es also. Er hatte ihr so viel erzählt und jetzt schuldete sie ihm eine Antwort. Er manipulierte sie, um Informationen zu erhalten. Und doch klangen seine Worte so echt, so glaubhaft. Wenn sie stimmten, war es kein Wunder, dass er keine Soldaten mochte und dass er jetzt hier saß. Und dann standen sie wirklich auf derselben Seite. Sie war ihm eine Antwort schuldig.
„Ich …“, begann sie. „… hab alle Tauchkurse geschwänzt.“
„Kein Grund, dich einzusperren.“
Natürlich war es das nicht. Doch direkt über die verbotene Technologie zu sprechen war sicher nicht klug. Wenn er ein Spion von Jack war, hätte sie ein Problem.
„Warum tauchst du nicht?“
Diese Frage traf sie unerwartet. Nie, in all den Jahren hatte das jemand gefragt. Alle schimpften nur und befahlen ihr, es endlich zu tun. Nie hatte jemand gefragt, warum sie nicht tauchte. Die Antwort lag ihr auf der Zunge. Doch es war zu persönlich. Was ging ihn das an? Nichts! Gar nichts!
„Warum stellst du so viele Fragen?“ Aufgebracht verengte sie ihre Augen zu Schlitzen.
Er blickte sie amüsiert an. „Na, um dein Vertrauen zu gewinnen.“
Diese absolute Ehrlichkeit traf sie. Er sagte das einfach so! Oder war er nur ehrlich, weil er wusste, dass er sie damit beeindruckte?
„Außerdem“, fügte er noch hinzu, „… vielleicht kannst du mir ja helfen.“
Gibbli horchte auf. Ihm helfen? Noch nie hatte sie jemand um Hilfe gebeten! Diese vielen ‚Noch-Nies‘ auf einmal in so kurzer Zeit verunsicherten sie. Nervös starrte sie auf ihre Hände.
„Gibbli, ich bin nicht hier, weil ich gefangen wurde. Denkst du wirklich, ich bin so blöd und lass mich erwischen? Ich wollte, dass mich diese Vollidioten schnappen.“
Wovon sprach er da? Das war nicht sein Ernst! Wer würde sich freiwillig in dieses stinkige, düstere Loch hier werfen lassen, wenn nicht ein Geisteskranker? Doch bevor Gibbli weiter von ihm wegrücken konnte, stand er auf und fing an, in der kleinen Zelle hin und her zu wandern. Sie fasste wieder etwas Mut.
„Wenn du freiwillig hier bist, wie hast du dann geplant auszubrechen?“, wagte sie zu fragen.
„Nun, darüber wollte ich nachdenken, wenn ich hier bin. Also jetzt.“ Er blickte durch die Gitterstäbe hindurch Richtung Fahrstuhl. „Warum soll ich mir vorher da drüber Gedanken machen? Das ist Zeitverschwendung.“ Wieder ging er in der Zelle umher. „Ich hab das gemacht, damit ich näher ans Museumsarchiv der Akademie rankomme. Da drin ist was, was ich brauche.“
Sie sah ihm fragend zu.
„Eine Kartenscheibe. Sie wurde vor kurzem entdeckt und dort hingebracht, ich bin mir sicher, sie ist der Schlüssel. Aber nicht jeder kann ihn benutzen. Auf ihr stehen … unbekannte Schriftzeichen.“
„Ocea-Schriftzeichen“, wisperte Gibbli.
Abyss blieb stehen. „Ja …“ Misstrauisch legte er den Kopf schief.
Gibbli schlang die Arme um ihre Knie.
„Richtig, Ocea-Schriftzeichen und eine Art Karte, die zu einem U-Boot führt. Du kennst dich also im Archiv aus? Kannst du mich dort hinführen?“
Gibbli traute sich nicht aufzusehen und blickte stattdessen auf seine Beine. Er stand jetzt wieder direkt vor ihr, sodass sie die Struktur des groben schwarzen Stoffs erkennen konnte. Sollte sie es ihm erzählen? Ja, jetzt wusste er sowieso schon zu viel. „Die Karte befindet sich nicht mehr im Museum“, sagte sie. „Der Flottenführer hat sie. Sky.“
Er beugte sich zu ihr hinunter und sah sie verblüfft an. „Woher weißt du das?“
„Ich hab ihn heimlich beobachtet, als er sie letzte Nacht holte. Du bist nicht der einzige, der dort nach verbotenen Gegenständen sucht, Abyss.“ Zum ersten Mal hatte sie seinen Namen ausgesprochen. So lange am Stück zu reden war ihr völlig fremd. Sicher lag es an ihrer Begeisterung für diese Technologie, wollte sie sich einreden. Auch wenn ihr sofort klar war, dass es an ihm lag. Irgendetwas an ihm war anders. Er sah sie.
„Das U-Boot, zu dem diese Karte führt … weißt du, was das für ein Boot ist?“
Gibbli schien fast ihre Angst zu vergessen. „Es kommt aus Ocea“, antwortete sie eifrig. „Und es existiert angeblich nur ein einziges Mal. Und-“, sie verstummte. Warum erzählte sie ihm das überhaupt?
„Ocea, hm. Gibbli, warum bist du wirklich hier?“
Konnte sie ihm trauen? Was, wenn er ihr nur Informationen entlocken wollte, für Jack? Doch Abyss hatte sie vor dieser Bestie aus der Nachbarzelle beschützt. Und er hatte sie um Hilfe gebeten! Sie!
Langsam streckte Gibbli ihren Arm nach vorne und er wich zur Seite aus, um ihn nicht zu berühren. Ihr Blick richtete sich konzentriert auf ihre Stiefel mit den Taschen und den Werkzeugen, die außerhalb der Zelle lagen. Abyss drehte sich um und sah nach draußen. Und schlagartig drang ein leises Surren in ihre Ohren. Es funktionierte noch! Sogar von hier aus! Fast lächelnd ließ sie das murmelgroße Fluggerät aus ihrer Tasche schweben. Leuchtend kam es durch die Gitterstäbe auf die beiden zu und landete dann auf ihrer Hand.
„Du kannst es steuern“, stellte er leise fest. Golden schimmernd lag das mechanische Glühwürmchen da und Abyss ging vor ihr in die Hocke, um es genauer zu betrachten.
„Verstehe.“ Erfreut nickte er. „Sie haben dich mit verbotener Technologie erwischt. Du kennst dich also damit aus.“
„Ich hab es gebaut“, flüsterte sie und schloss die Hand um das Gerät. Es fühlte sich warm an.
„Heilige Scheiße“, murmelte er überrascht, hatte sich dann aber sofort wieder unter Kontrolle. „Du bist ganz schön jung für eine Technikerin.“
Ein heißes Kribbeln stieg in ihr hoch. Sie hätte längst … sie wäre schon lang … Sie war die Beste darin! „Ich war schon vor vier Jahren mit allen Technikkursen der Akademie durch! Aber diese Kotzbrocken lassen mich nicht zur Abschlussprüfung zu.“
Er lachte auf. „Weil dir die Tauchkurse fehlen.“
„Ja“, brachte sie mit zusammengebissenen Zähnen hervor.
„Also hast du dir neue Kurse gesucht. Deine eigenen Kurse. Im verbotenen Archiv.“ Er zeigte grinsend auf das Schloss. „Kriegst du dieses Gitter damit auf?“
Und von ihr fiel eine Last ab. Wie konnte sie nur so blöd sein? Natürlich bekam sie es auf! Wie hatte sie das vergessen können, sie hätte die ganze Zeit über fliehen können, sie hätte nie-
„Gibbli?“, unterbrach er ihre Gedanken und Gibbli erkannte das Problem: Abyss. Er war ein Verbrecher. Er war böse.
Sie nahm all ihren Mut zusammen und begann leise zu sprechen: „Wenn ich das Gitter öffne, würdest du das U-Boot stehlen. Flottenführer Sky sucht sicher schon viel länger danach. Er soll es bekommen. Er kennt sich aus. Flottenführer Sky-“
Sie brach den Satz ab. Abyss sah aus, als wäre er kurz davor, sein Messer zu ziehen und sie auf grausamste Weise zu köpfen.
„Hat diese Mr. Flottenführerfratze dir jemals geholfen?“, fragte er laut.
„Er …“, sie dachte an den gestrigen Vorfall zurück. Sky hatte sie den Soldaten ausgeliefert, ohne ihr zu helfen. „Nein.“
„Hat er dir jemals was von seinen Plänen erzählt?“
„Nein. Er …“
„… kennt wahrscheinlich nicht mal deinen Namen.“
Gibbli schwieg. In ihrem Kopf drehte sich alles. Sollte sie Abyss wirklich helfen? Diesem … Mörder? Das leise Tropfen des Wassers tickte, wie eine Uhr die ablief. Sie musste sich entscheiden. Jetzt.
„Gibbli, schau mich an.“
„Nein!“, schrie sie auf. Er würde sie töten! Er würde ihr sein Messer mitten ins Herz rammen! Und dann spürte sie seine Hand an ihrem Kinn.
„Du kannst das“, sagte er sanft.
Sie packte seinen Arm und versuchte, ihn wegzudrücken. Aber er war zu stark und schob ihren Kopf nach oben. Langsam, Stück für Stück, bis sie direkt in seine Augen sah. Kalte, graue Augen.
„Ich hab mir immer eine Familie gewünscht, Gibbli. Wirst du meine kleine Schwester sein?“, fragte er.
„Was?“ Gibbli wollte sich wegdrehen, doch er hielt sie fest. Seine grauen Augen kamen ihr plötzlich nicht mehr so kalt vor.
„Ich nehm dich mit“, sagte er.
Sie starrte ihn an, brauchte ein paar Sekunden, um seine Worte zu begreifen, Sekunden, in denen sie in den hellen Pupillen versank, die sich kaum von seiner blassen Haut abhoben. Langsam lockerte sie ihre Hand und hörte auf, sich zu wehren. Abyss hatte ihr ein Angebot unterbreitet, das sie nicht ablehnen konnte. Er würde sie mitnehmen. Zu diesem U-Boot. Zur Technologie, die sie so sehr mochte und weg von diesen dummen Eliteheinis der Akademie. Und zum ersten mal in ihrem Leben fühlte sie sich nicht mehr allein. Sie löste ihren Blick von dem seinen und konzentrierte sich auf das kleine, goldene Fluggerät. Mit ihren Gedanken schickte sie es empor, mitten durch die Gitterverriegelung, die mit einem leisen Klicken aufsprang.
Er ließ sie los und stand auf.
Gibbli starrte ihm nach. Dann rappelte sie sich hoch und folgte ihm nach draußen. Abyss hatte sich bereits einen langen Mantel umgeworfen und kramte in ein paar Kisten nach seinen Sachen. Sie nahm ihre restliche Kleidung vom Tisch und zog sich an. Mit ihren Werkzeugen fühlte sie sich gleich etwas sicherer. Dann fiel ihr Blick in die Nachbarzelle. Der Mann lag noch immer am Boden. Sein Gesicht wirkte grausam verstümmelt in dem fahlen Licht.
Ein flaues Gefühl kroch durch Gibblis Bauch. „Ist er tot?“
„Nein“, antwortete Abyss sofort, während er einen kleinen, unförmigen Koffer an sich nahm. „Er … schläft.“
Als sie in den Aufzug stiegen, streifte Abyss leicht ihr Bein.
„Tut mir leid“, flüsterte er. Er hatte es begriffen.
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