shadow

Kapitel 5: Die Strafe (Bis in die tiefsten Ozeane)

Leises Tropfen durchdrang die Stille und Gibbli schnappte nach Luft. Die drei Gestalten in ihrem Kopf begannen sich aufzulösen. Sie hatte wieder geträumt. Noch einen dieser klaren Träume, die sich so sehr von den anderen unterschieden. Nur dieses Mal war es gar nicht so schlimm gewesen. Es handelte sich nicht um den einen Alptraum, den sie sonst immer hatte, sondern der von vorhin schien einfach weitergegangen zu sein. Da waren ein dunkelblauer Tiefseemensch und eine Hybridenfrau. Langsam wurde ihr klar, dass sie nicht im Körper dieser jungen Landmenschenfrau steckte, mit den zwei blonden Zöpfen und der Ponyfrisur. Sie besaß keine Sommersprossen und ihre Haut war nicht so blass wie die von Samantha. Sie war Gibbli, mit ihren unbändigen, hellbraunen Haaren und einer dunklen Haut im selben Farbton. Und sie befand sich auf der Meeresakademie.
Am Boden des Tunnels hatten sich einige Pfützen gebildet. Schnell sprang Gibbli hoch. Sie durfte nicht träumen, nicht jetzt. Das Wasser spritzte die schwarze Hose über ihren Stiefeln nass, als sie durch die Lachen hindurch hastete. Die hohe Luftfeuchtigkeit in diesem Gebiet war typisch. Sie rannte durch einen Gang und an einer Abzweigung vorbei, die zu den Gewächshauskuppeln führte. Ein modriger Geruch stach in ihre Nase. Das laute Dröhnen der Röhren hörte sich noch bedrohlicher an, als sonst.
Es war Montag und der Unterricht hatte vor fünf Minuten begonnen. Doch Gibbli stand nicht im Klassenzimmer für den fortgeschrittenen Energiekurs. Sie hatte auch nicht ihr Frühstück im Versammlungsraum mit den anderen Schülern zu sich genommen. Stattdessen lief sie schnell atmend an einem Sauerstofftank vorbei. Kurz nachdem sie aus dem verbotenen Archiv geflüchtet war, hatte sie ihr Gesicht auf der großen Infotafel vor den Schülerquartieren vorgefunden. Für ihre Auslieferung gab es sogar Extrapunkte im Trainingskurs der Elitesoldaten. Somal und Kor hatten sie gemeldet und Gibbli hatte die Nacht damit verbracht, immer wieder zu flüchten, sich zu verstecken und nicht einzuschlafen. Es gab nur eine Möglichkeit: Sie musste hier verschwinden, die Akademie verlassen. Abhauen.
Gibbli wollte nicht darüber nachdenken, was man mit ihr anstellen würde, wenn man sie erwischte. Die Meeresakademie war kein Spielplatz. Sie lag streng in der Hand der drei Direktoren. Und die Schüler-Aufsicht verfolgte sie. Sir Brummer hatte zwar nicht die Macht über die U-Boot Flotten oder andere militärische Einrichtungen der Akademie, doch die Aufsicht war eine Gruppe von Soldaten, die dem schulischen Direktor persönlich unterstanden. Gibbli war ihnen schon zwei Mal nur knapp entwischt. Sie hatten sich in drei Gruppen aufgeteilt. Eine stand jetzt in der Nähe des Zugangs zum verbotenen Archiv, das sie vor ein paar Stunden wegen dem anderen Einbrecher fluchtartig verlassen hatte. Eine andere lauerte ihr vor ihrem eigenen Quartier auf, aus dem sie ein paar persönliche Gegenstände holen wollte. Dann eben nicht. Die Werkzeugtasche und ihr EAG trug sie sowieso immer umgeschnallt. Sie musste irgendwie eines der Rettungsboote erreichen. Es handelte sich dabei um kleine Tauchkapseln, verteilt auf die gesamte Schule. Wenn sie eine davon stahl, konnte sie der Aufsicht vielleicht entkommen.
Immer wieder blickte sich Gibbli um. Sie sah Brummers Soldaten nicht, spürte aber, dass sie der dritten Gruppe nur wenige Meter voraus war, welche die Korridore absuchte. Noch eine Schleuse, dachte sie verzweifelt.
Die Tür vor ihr öffnete sich automatisch und für Gibblis Geschmack viel zu langsam. Sie zwängte sich hindurch und erblickte am Ende des Ganges einen Mann in Kampfmontur, die er unter einem Taucheranzug trug. Der Mann trat wie jemand auf, der nicht nur sämtliche Muskeln seines Körpers, sondern jede Situation fest in seiner Kontrolle wusste. Er wirkte durchtrainiert und auf eine gewisse Art autoritär. Seine schwarzen Dreadlocks bildeten nach hinten gebunden einen Streifen auf seinem Kopf, den er links und rechts davon abrasiert hatte. Der Mann setzte soeben einen Fuß in die Tauchkapsel, während er einen abweisenden Blick über seine Schulter warf, um zu sehen, wer ihn störte. Die dunklen, runden Gläser einer Art Sonnenbrille bedeckten sein gruseliges Gesicht und Gibbli bemerkte ein paar Narben, die darunter hervorlugten.
So ein Mist! Sie musste zurück in einen anderen Gang mit einer anderen Kapsel. Doch ein Zurück gab es nicht, sonst würde sie diesen verdammten Soldaten direkt in die Arme laufen. Die Soldaten oder er. Ihre Wahl fiel auf ihn.
Natürlich erkannte Gibbli ihn. Jeder kannte ihn. Er war berühmt und wurde von allen nur Sky genannt. Sky war kein Lehrer. Er gehörte zu den Soldaten. Nicht zur Schüleraufsicht von Sir Brummer, sondern zur richtigen Elite, zur U-Boot Flotte von Direktor Jack. Nun, er gehörte nicht nur zu ihnen, er leitete sie. Als zweiter Mann der militärischen Einheiten trug er die Verantwortung für rund 200 Boote und deren Besatzungsmitglieder. Allerdings unterschied ihn etwas von den anderen. Er besaß ein Geheimnis. Und Gibbli kannte es. Das war ihre Chance, sie musste es riskieren! Es blieb ihr keine Wahl, als sich dazu zu überwinden, den Mund aufzumachen.
„Warte!“, rief sie ihm im Rennen zu. Gibbli erkannte eine große Holzkiste mit Rädern in der Kapsel, die er irgendwie in sie hinein gezwängt hatte. Wie ungewöhnlich. Auf der Kiste lag sein Tauchhelm.
Sky zögerte zunächst, drehte sich dann jedoch um. Gibbli kam ein paar Meter vor ihm zum stehen und sah ihn nervös an. „Du bist Flottenführer, du befehligst die U-Boot-Flotte der MA“, sagte sie und musste dabei all ihren Mut zusammen nehmen. Das Sprechen mit anderen Menschen gehörte nicht zu ihren Stärken.
„War“, berichtigte er schroff. Seine tiefe Stimme verriet ihn. Sie hatte sich nicht geirrt.
„Ich hab dich gesehen! Heute Nacht!“, rief Gibbli und wünschte sich gleichzeitig, im Boden zu versinken. Sicher würde er sie falsch verstehen, schoss es ihr durch den Kopf, aber sie zwang sich dazu, weiter zu sprechen. „Du warst im verbotenen Archiv.“
Misstrauisch rutschten seine buschigen Augenbrauen ein Stück nach unten, soweit man das erkennen konnte. Denn Sky trug immer diese Sonnenbrille. Es gab das schreckliche Gerücht, dass er gar keine Augen besaß.
„Du weißt ganz schön viel.“ Sky stieg aus der Kapsel und kam gemächlich auf Gibbli zu.
„Du hast die Karte gestohlen!“, rutschte es ihr heraus und am liebsten hätte sie sich auf die Zunge gebissen.
„Zu viel.“ Im nächsten Augenblick hatte er seine Waffe gezogen und richtete sie direkt auf Gibblis Herz, so schnell, dass sie es kaum mitbekommen hatte. Dabei wirkte er so unglaublich ruhig, als täte er täglich nichts anderes als Leute zu erschießen.
Verdammt! Nicht gut! Hätte sie nur nichts gesagt! Gibbli wagte es nicht, an die Stelle zu sehen, an der sie seine Augen vermutete und starrte stattdessen auf seinen spitzen Bart. Er hatte die Enden der kurzen Haare über seinem Mund zusammengezwirbelt, was ihm das mörderische Aussehen eines Piraten verlieh. Ich bin doch so blöd, dachte sie. Wie kam sie dazu, einen Flottenführer des Diebstahls zu bezichtigen? Nicht nur einen, sondern den obersten noch dazu. Wie kam sie überhaupt dazu, mit jemandem seines Standes zu reden? Er würde sie erschießen! Mit einem lauten Knall, Peng! Einfach so. Okay, es war wohl eher ein Surren, das sein Strahler abgeben würde. Aber er würde sie umbringen.
Skys Arm sank nach unten, während er mit seiner rauen Stimme weitersprach: „Aber wir wissen beide, dass du das niemandem verrätst. Denn dann müsstest du zugeben, dass auch du dort unten warst. Im Übrigen habe ich mir die Metallscheibe geborgt, nicht gestohlen.“
Fassungslos schaute ihm Gibbli zu, wie er wieder gelassen zurück in die Kapsel stieg. Schritte hallten durch den Tunnel. Hinten im Gang tauchten die ersten Soldaten auf.
„Bitte, nimm mich mit!“, flehte Gibbli ihn an und ging näher auf die Kapsel zu.
Ohne sich umzudrehen, deutete er mit einer Kopfbewegung zur Seite ein Nein an. „Ich mag keine Kinder.“
„Die werden mir meine Finger abhacken!“
Der Flottenführer hielt inne und blickte berechnend über seine Schulter. Dann fuhr er sich langsam mit einer Hand durch seine schwarzen Dreadlocks und schüttelte den Kopf. „Das geht nicht.“
Sky drückte einen Schalter, bevor sie widersprechen konnte und die Kapsel verriegelte sich.
Nein! Verzweifelt sprang Gibbli nach vorne und hämmerte gegen die Luke. Nein! Nein! Doch ein Schleusentor fuhr bereits vor der Kapsel hinab. Sie drückte sich schnell weg, um nicht von der Tür eingeklemmt zu werden und stolperte nach hinten.
Die Soldaten der Schüler-Aufsicht erreichten Gibbli, als sie versuchte aufzustehen. Ihre orange-gestreiften Uniformen unterschieden sie von den richtigen Elitesoldaten. Dennoch griffen sie mindestens genauso hart durch. Sie spürte die ekligen Hände der Männer auf ihrem Körper, die sie zurück auf den Boden drückten. Gibblis Finger griffen ins Leere, in Richtung der Rettungskapsel.
„Bitte nicht!“, flehte sie ein letztes Mal, auch wenn sie wusste, dass es aussichtslos war.
Hinter dem kleinen Sichtfenster des Schleusentors löste sich die Tauchkapsel. Der oberste Flottenführer Sky hatte die Akademie verlassen. Gibbli wurde herum gewirbelt. Die Männer verdrehten schmerzhaft ihre Arme auf ihrem Rücken. Sie erhaschte einen kurzen Blick auf ihre Gesichter. Niemand von ihnen kam ihr bekannt vor. Die Soldaten waren mindestens zu dritt und so nah. Viel zu nah! Jemand legte kaltes Metall um ihre Handgelenke. Mit einem leisen Piepen rasteten die Fesseln ein. Dann riss man Gibbli hoch. Sie versuchte, sich auf ihre Wunde am Arm zu konzentrieren. Der lange Schnitt, den eine ihrer Glühwürmchenmaschinen bei ihrer Flucht vor Somal und Kor verursacht hatte, hatte sich wieder geöffnet. Doch die Wunde war ein Schmerz, den man leichter ertragen konnte, als die Berührungen der Hände, die sie packten und mit sich schliffen. Es war nur ein leichter Trost, dass sie um diese Zeit wenigstens den neugierigen Blicken der Schüler entging, die jetzt verteilt in den Klassenzimmern standen.

 

Die Soldaten schubsten Gibbli in einen runden Raum im Zentrumsturm. Es war das Büro von Sir Brummer. Mit ihm hatten hier zwei weitere Direktoren ihre Büros.
Die medizinische Direktorin Dr. Elvira Fenchel, deren durchbohrenden Blick Gibbli als sehr unbehaglich empfand, hatte sich im Erdgeschoss eingerichtet. Sie leitete einen der größeren Komplexe der Akademie: Die medizinischen Abteilungen, die Notfallstation sowie die Krankensäle und alle daran hängenden Forschungseinrichtungen.
Jack hingegen saß im obersten Stockwerk, an der Spitze. Dass alle den militärischen Direktor Jack Kranch mit seinem Vornamen ansprachen, war keine Respektlosigkeit ihm gegenüber, im Gegenteil. Er bestand sogar darauf. Es war allgemein bekannt, dass man ihn mit diesem Kinderspielzeug verglich, diesem Clown aus der Box. Kein lustiger Clown, sondern eine dieser bösen, gruseligen Fratzen, vor denen sich jedes Kind fürchtete. Jemand, der aus der Box sprang, wenn das Lied zu Ende war und immer das letzte Wort hatte. Gibbli hatte Jack bisher nur zwei Mal kurz gesehen. Als Führer des gesamten Landmenschengebietes und Leiter aller militärischen Einrichtungen hielt er sich nur jeweils kurz an der Akademie auf und war meist irgendwo in der Hauptstadt des Landmenschengebiets, Mooks. Die U-Boot Flotte an der Front zu den Meermenschen hingegen steuerte meist sein Stellvertreter, der Flottenführer Skarabäus Sky. Nun, jetzt wohl anscheinend Ex-Flottenführer.
Markus Brummer beanspruchte als Schulleiter die mittlere Etage für sich, zusammen mir Mr. Ilias Plotz. Von hier aus konnte der Direktor die gesamte Akademie überblicken. Er saß hinter seinem Schreibtisch und schien in ein Gespräch mit seinem Stellvertreter vertieft zu sein. Als zwei der Soldaten Gibbli vor seinen Tisch zerrten, verstummten sie.
Sir Brummer sah sie abschätzend an. Gibbli fühlte sich bloßgestellt unter seinem Blick. Nach gefühlt mehreren Minuten, fing er direkt an zu schreien: „WAS DACHTEST DU DIR DABEI?“
Gibbli zeigte keine Regung. Starr blickte sie zu Boden und schwieg. Am liebsten hätte sie seinen Kopf gepackt und ihn, wie den Blopp einer Luftpolsterfolie, einfach zerdrückt.
„Deine Eltern sind Eliteabgänger! Den Tauchkurs schwänzen! Ständig träumst du im Unterricht und jetzt das? DU WURDEST MIT VERBOTENER TECHNOLOGIE ERWISCHT!“ Er fing an, hinter seinem Schreibtisch auf und ab zu gehen, wischte sich über die Glatze und schien zu überlegen, wie es weiter ging.
Gibbli spähte vorsichtig hoch und erkannte eines ihrer Fluggeräte. Das einst so wundervoll glühende Maschinenwürmchen lag auf Sir Brummers Tisch. Armselig, verbogen und kaputt. Somal musste es ihm gegeben haben.
„Wie konntest du es wagen, das Ding hier als Waffe zu benutzen?“
Das war eine Frage. Erwartete er eine Antwort? Sie musste wenigstens versuchen, sich zu verteidigen. Somal und Kor hatten sie bedroht. Dieses Mal waren sie zu weit gegangen! Kor wollte ihre Haare abschneiden! Somal hätte sie beinahe geküsst. Die beiden wollten Gibbli verletzen!
„Keine Ahnung“, flüsterte sie stattdessen.
„KEINE AHNUNG? DAS IST HOCHVERRAT! DIESER DRECK HAT HIER NICHTS ZU SUCHEN!“, brüllte er, sodass sein ganzer Tisch erbebte.
Sie schwieg. Sir Brummer stapfte mit hochrotem Kopf um seinen Schreibtisch herum und packte sie an den Haaren. „Wenn Jack dich erwischt hätte, würde er dich auf der Stelle von der Schule werfen!“
Sein Griff schmerzte und Gibbli brauchte etwas, um seine Worte zu erfassen. Er warf sie nicht wirklich raus, oder? Das durfte er nicht! Ihr Vater würde sie umbringen!
„SAG MIR SOFORT WOHER DU DIESE MASCHINEN HAST!“, schrie der Direktor ihr so laut ins Ohr, dass Gibbli dachte, es würde platzen.
„Ich hab sie gebaut“, sagte sie leise. Das hatte er nicht erwartet. Sie hätte es nicht aussprechen dürfen. Doch sie war verdammt noch mal stolz darauf! Diese dämlichen Menschen hatten ja keine Ahnung!
Fassungslos starrte er sie an, dann wandelte sich seine Miene und sofort wurde ihr klar, was jetzt kam. Gibbli wollte zurückweichen, doch hinter ihr standen Brummers Soldaten. Im nächsten Augenblick brannte ihr Gesicht. Der Direktor hatte zugeschlagen.
„DU WAGST ES, DAMIT ZU EXPERIMENTIEREN?“
Gibbli traute sich nicht mehr, sich zu bewegen. Ihre linke Wange brannte höllisch. Früher oder später hätte er es sowieso herausgefunden.
„Verbotene Technologie zu besitzen ist das eine, sie auch noch selbst zu konstruieren, stellt eine Gefahr für alle anderen Landmenschen dar. Ist dir klar, welche Strafe darauf angesetzt ist?“
Natürlich wusste sie das. Jeder wusste das. Aber erst jetzt drang ihr die Tatsache ins Bewusstsein, dass es so weit war. Sie würde nie wieder dazu im Stande sein, etwas zu konstruieren. Verzweifelt blickte Gibbli zu Boden. Sie brauchte ihre Finger doch!
„Meine Güte, du hättest so viel erreichen können, Kind! Es bleibt mir keine andere Wahl.“ Er zog sich kopfschüttelnd zurück und begab sich wieder hinter seinen Schreibtisch.
„Sir ist das nicht etwas heftig? Sie ist so jung! Gibt es keine andere Möglichkeit?“, ergriff nun sein Stellvertreter Mr. Plotz das Wort.
„Wir sind hier an einer elitären Einrichtung und ich dulde keinen Ungehorsam an meiner Schule! Sie muss bestraft werden! Das hier ist nicht nur ein einfaches Verbrechen, sie hat verbotene Technologie entwickelt!“
„Wir könnten sie stattdessen einsperren. Wer glaubt ihr schon, dass sie das Ding selbst gebaut hat? Und Jack muss es nie erfahren.“
Der Direktor sah seinen Stellvertreter nachdenklich an und senkte seine Stimme. „Unmöglich. Die oberen Gefängnisse sind voll und wir können sie nicht in den Todestrakt stecken, sie hat niemanden getötet. Uns bleibt keine Wahl, wir befolgen das Gesetz.“
„Dann müssen wir die Zellen eben doppelt besetzen, Sir“, meinte Mr. Plotz eindringlich und fügte noch hinzu: „Sir, ein Kind ohne Finger fällt auf und es würde sicher auch kein gutes Licht darauf werfen, wenn jemand erfährt, dass wir ein kleines Mädchen nicht unter Kontrolle hatten.“
Sein letzter Satz schien den Direktor zu überzeugen. „Meinetwegen. Heute Nacht nahmen wir diesen bleichen Riesen fest. Er ist harmlos, hatte keine Berechtigung sich hier auf der Akademie aufzuhalten. Wir haben ihn in den Heizungsräumen aufgegriffen.“
„Schon wieder? Saß der nicht schon öfter bei uns im Gefängnis?“
„Einige Male. Letztendlich ließen wir ihn immer wieder laufen. Jack beharrt darauf, dass er angeblich Landmenschen umgebracht hat. Er wird langsam paranoid, wenn du mich fragst. Er konnte es diesem Abgrund nie nachweisen.“ Sir Brummer machte sich einige Notizen auf seinem EAG und wandte sich dann an die Soldaten hinter Gibbli. „Bringt sie weg. Zelle 17. Drei Tage Arrest! MACHT SCHON, SCHAFFT SIE MIR AUS DEN AUGEN!“
Einer der Soldaten packte Gibbli grob an der Schulter und sie jaulte auf. Fasst mich nicht an, dachte sie flehend. Nur am Rande bekam sie das Gespräch noch mit, während man sie Richtung Ausgang führte.
„Gut“, sagte Sir Brummer. „Und jetzt zu Sky.“
„Was ist mit Sky?“, fragte Mr. Plotz.
„Jack musste ihn feuern. Und er weigert sich, den Posten seines Stellvertreters neu zu besetzen. Eine Katastrophe. Andererseits ist diese Lücke sowieso unfüllbar. Wir brauchen wenigstens einen weiteren Flottenführer. Noch besser zehn. Jack will die Schülerabgangslisten der letzten …“

 

Das Gefängnis lag direkt unter dem runden Zentrumsturm. Es gab mehrere unterirdische Ebenen, in denen jeweils zwölf Zellen als kleine Segmente an der Außenseite rundherum angeordnet waren, wie bei einer Uhr. Jede Zelle grenzte an zwei andere, nur durch Gitter getrennt, während der Platz in der Mitte für den Aufzug frei blieb.
Zelle 17 befand sich in der zweiten Gefängnisebene von oben. Als sie aus dem Lift stiegen, drang ihnen sofort ein metallischer Geruch entgegen. Irgendwo tropfte Wasser auf Stahl. Sie befanden sich einige Meter unter dem Meeresboden und Fenster nach draußen gab es hier keine.
Gibbli musste ihre halbe Kleidung ausziehen, an der ihre Werkzeugtaschen befestigt waren. Nur noch mit einer dünnen Hose und ihrem, an einem Arm aufgeschlitzten, Pullover stand sie da und sah sich zitternd um, während ein Soldat ihre Sachen auf einem Tisch verstaute. Ohne ihre Stiefel kroch die Kälte aus dem feuchten Boden ungehindert ihre Beine hoch. Licht gab es hier kaum. Nur ein paar wenige, schwache Neonröhren, rundherum an der Decke entlang vor den Zellwänden angebracht, strahlten ein düsteres Licht aus. Viele davon funktionierten gar nicht mehr.
Gibbli bemerkte Schatten hinter den Gittern kauern. Einige lagen nur herum, viele waren jedoch nicht zu erkennen und hatten sich in die Dunkelheit, an den äußeren Wänden des Turms, zurückgezogen.
„Zurück!“, rief einer der Soldaten, bevor er die Zelle mit einer elektronischen Karte aufschloss. Nichts rührte sich.
Gibbli spürte, wie ihr die Handschellen abgenommen wurden. Am liebsten hätte sie die Haut an den Händen des Soldaten abgezogen, der sie packte und in die Zelle schubste. Sie fiel zu Boden und kroch schnell in eine Ecke.
Die Männer schlugen das Gitter zu. Es klickte und eilig verließen sie den Kerker. Als ihre Schritte verklungen waren, hörte Gibbli nur noch leises Tropfen auf Metall, zusammen mit ihrem eigenen Herzschlag. Dieser erklang so schnell, als hätte sie gerade einen Marathon hinter sich. Und noch immer klangen die letzten Worte des Direktors in ihrem Kopf nach. Der Führer Jack hatte seinen zweiten Mann tatsächlich gefeuert. Darum also die Fluchtkapsel. Diese unglaubliche Neuigkeit würde in ein paar Tagen alle Zeitungen füllen! Das würde die Struktur der Regierung der Landmenschen komplett verändern. Am liebsten hätte sich Gibbli ins System gehackt, um mehr darüber herauszufinden. Aber all das war jetzt bedeutungslos. Sie steckte hier fest. Ihr Leben war vorbei, spätestens wenn ihr Vater Wind davon bekam.
Etwas rührte sich in ihrer Zelle. Gibblis Eingeweide verkrampften sich. Wie ein Stromstoß bohrte sich die Tatsache in ihr Bewusstsein, welche sie längst wusste, aber nicht wahr haben wollte:
Sie war nicht allein!
„Verdammt“, knurrte ein Mann. Dann tauchte sein blasses Gesicht aus dem Schatten heraus auf. Er bewegte sich langsam auf Gibbli zu und er war riesig. Bestimmt über zwei Meter groß! Einige Strähnen seines langen blonden Haares hatten sich aus dem Band gelöst und standen wild in alle Richtungen ab. Sein düsterer Blick verhieß nichts Gutes. Kurz vor ihr hielt er inne.
„Ich meinte guten Tag.“ Seine Stimme klang gespielt höflich und passte absolut nicht zu seinem Auftreten.
Gibbli drückte sich näher an die Gitterstäbe an ihrem Rücken. Dieser scheiß blöde Direktor sperrte sie wirklich zu einem Verbrecher! Fast wünschte sie sich, er hätte ihr stattdessen doch die Finger abgehackt.
Der Mann ging vor ihr in die Hocke und blickte sie erwartungsvoll an. Er hielt ihr seine gigantische Hand entgegen. Gibbli versuchte ihn nicht anzusehen und schlug sie panisch beiseite. Im nächsten Augenblick lag sie auf dem Boden. All seine Muskeln angespannt, saß er auf ihr und hielt sie an ihren Handgelenken umklammert. Diese drückte er mühelos über ihrem Kopf auf den kalten Untergrund. Der Mann war schwer wie ein Wal. Und stark.
Gibbli wand sich hin und her und schrie: „WEG!“
Er bewegte sich nicht den kleinsten Millimeter. Sein Gesicht stand jetzt so nah über ihrem, dass ein paar Strähnen seines Haares neben ihren Wangen vorbei fielen und sie streiften. Sie rochen nach altem Holz. Am Kinn trug er einen kurzen Bart, der jedoch genauso hell war wie seine Haut, sodass man ihn im Neonlicht kaum erkennen konnte.
„Du hältst nichts von Nettigkeiten? Gut, ich auch nicht. Dann eben anders“, sagte er drohend. „Ich bin Abyss, dein persönlicher Abgrund, hast du verstanden?“
Gibbli versuchte ihre aufkommenden Tränen wegzublinzeln und nickte schnell.
„Schön. Name?“
Ihre dunkle Haut kribbelte und fühlte sich an, als ginge sie gleich in Flammen auf. Sie würde sterben. Trotz des kalten Bodens brannte alles in ihr. Er würde sie töten!
„NAME?“, schrie der Mann noch einmal.
„Gibbli“, sagte sie zitternd.
„Gibbli. Hallo Gibbli. Ich hab nicht erwartet, diese verfluchte Zelle mit jemandem teilen zu müssen. Also, wir stellen das jetzt von Anfang an klar, du wirst dich nicht in meine Pläne einmischen oder etwas tun, was sie zerstört, verstanden?“
Sie hatte keine Ahnung, wovon er sprach und nickte einfach, in der Hoffnung er würde sie dann in Ruhe lassen. Plötzlich weiteten sich für einen Moment seine Augen, als hätte er etwas Ungewöhnliches wahrgenommen.
„Du bist … faszinierend“, sagte er überrascht. „Diese Kälte …“ Er brach ab.
Gibbli wagte kaum, zu atmen, als ihr die Gier in seiner Miene bewusst wurde. Dieser Abyss hingegen nahm tief Luft und stieß sie laut aus. Grimmig schüttelte er langsam den Kopf.
„Ich lass dich jetzt los.“
Loslassen, ja. Loslassen war gut. Loslassen war sehr gut! Und er ließ sie los.
Gibbli blieb liegen und traute sich nicht, sich zu bewegen. Es wäre so praktisch, wenn Bewegungslosigkeit einen einfach unsichtbar machen könnte!
Als sie sich nach ein paar Minuten aufsetzte, stand er noch immer mitten in der Zelle und blickte sie böse an, beobachtete sie mit seinen stechenden Augen. Der Mann war so groß, dass Gibbli sich nicht wohl dabei fühlte, so weit unten zu sitzen. Sie zog sich an den Gitterstäben hinter ihr empor. Dabei fiel sein Blick auf den Schnitt an ihrem Arm. Die Wunde blutete wieder.
„War ich das?“, fragte er und kam näher.
Sie reichte ihm gerade einmal bis zur Brust. Nicht schon wieder, dachte Gibbli und bleckte ihre Zähne. Als er nach ihrem Arm griff, konnte sie sich nicht zurückhalten. Sie hasste das! Panisch versuchte Gibbli ihre Hände wegzureißen. Dabei erwischte sie ihn mit den Fingernägeln. Er hielt kurz inne. Ein roter Strich zog sich unter seinem Kinn am Hals entlang.
Oh nein!
Was hatte sie getan? Gibbli fühlte sich auf einmal schwerelos vor Angst, was er jetzt mit ihr anstellen würde.
Der Ausdruck auf seinem Gesicht änderte sich langsam von böse zu unglaublich böse. Schließlich starrte er sie an, als würde er sie jeden Moment mit seinem Blick durchbohren. Zitternd versuchte Gibbli ihm auszuweichen.
Das Tropfen des Wassers hallte durch die Zelle, als er leise zu sprechen begann: „Das war nicht nett.“ Dann riss der Mann sie hoch und drückte Gibbli gegen die Gitter, sodass ihre Füße mitten in der Luft hingen. Bevor sie auch nur versuchen konnte, sich zu befreien, hielt er ihr im gleichen Moment ein langes Messer an die Kehle.
„HALT STILL!“, schrie er sie an. „Dein Gezappel macht mich wahnsinnig! Ich will dir nicht wehtun.“
Das tat er doch längst! Aber zu ihrer Überraschung blieb der Würgereflex aus, den sie jedes Mal gespürt hatte, wenn jemand sie berührte. Gibbli schloss die Augen. Dieser Mann war verrückt. Und er hatte irgendwie eine Waffe hereingeschmuggelt. Sie wollte gar nicht wissen, wie er das geschafft hatte. Er hielt sie fest. Mit seinen riesigen Händen! Er fasste sie an! Sie wollte das nicht. Niemand durfte das!
„Dann töte mich endlich“, flüsterte sie leise. Eigentlich hatte sie es nur denken wollen. Warum brachte er es nicht endlich zu Ende? Das wäre nicht so schlimm wie seine Hände an ihrer Haut.
Er ließ sie los und Gibbli sackte zu Boden.
„Ich … wollte nur helfen.“ Er betrachtete sie mit einem überraschten Blick und ging einen Schritt zurück. „Wir sind beide hier drin und auf derselben Seite, okay?“
Gibbli versuchte, sich aufs Atmen zu konzentrieren.
„OKAY?“, schrie er jetzt.
Sie nickte schnell.
Abyss legte sich in die andere Ecke der Zelle. Demonstrativ drehte er sich von ihr weg. Und für Gibbli war es das Beste, was er machen konnte.
Sie rieb sich das Handgelenk. Der Schnitt in ihrem Arm tat wieder weh. Er hatte sie nicht getötet. Vielleicht schaffte sie es doch noch, durchzuhalten. Drei Tage. Gibbli lehnte sich erschöpft an die Gitter der Nachbarzelle und blickte misstrauisch auf Abyss. Seine hellblonden Haare leuchteten beinahe im schwachen Neonlicht. Hoffentlich blieb er auf seiner Seite da drüben.

 

Nach ein paar Stunden fühlte sich ihr Mund rissig und trocken an. Sie hatte Durst. Immer wieder schlug Gibbli schnell die Augen auf, sobald sie merkte, dass sie ihr zufielen. Doch langsam dämmerte sie weg. Sie durfte nicht schlafen, nicht so lange er da war. Dieser gewaltige Mann.
Plötzlich saugte etwas die gesamte Luft ab. Jemand schrie, eine Frauenstimme. Gibbli atmete Wasser. Sie ertrank! Ihre Lungen füllten sich mit kalter Flüssigkeit. Verschwommene Umrisse eines zierlichen Körpers verdeckten ihre Sicht. Sie blickte in weit aufgerissene Augen. Starr, tot! Nein, bitte nicht schon wieder! Doch dann veränderte sich ihr beginnender Alptraum und sie wurde zur Hybridenfrau, die schon einmal in ihrem Kopf aufgetaucht war.

Teile diesen Artikel:

Schreibe einen Kommentar

Ich schalte Kommentare manuell frei, sie sind daher ggf. erst nach einigen Tagen sichtbar. Möchtest du, dass dein Kommentar nur von Socke gelesen wird und nicht öffentlich sichtbar sein soll, bitte am Anfang des Kommentars das Wort PRIVAT in Großbuchstaben schreiben. Die Angabe von Name, Email und Website sind optional. Mit dem Absenden eines Kommentars, stimmst du der Datenschutzserklärung zu.