Kapitel 24: Der Plan des Kapitäns (Bis in die tiefsten Abgründe)

Sie stoppte die Tauchkapsel und leitete den Andockvorgang ein. Gibbli blickte auf ihr EAG, wo sein Signal aufblinkte. Wenn Abyss so etwas hinbekam, konnte sie das auch. Grinsend verfolgte sie einen Punkt auf der Karte. Es war leicht gewesen, sein Messer zu zerlegen und den Ortungsbot herauszufischen. Sie hatte keine Minute gebraucht, um ihn so umzuprogrammieren, dass seine Funktion sich umkehrte und er statt einem Sender zu einem Empfänger des eigentlichen Senders wurde.
Gibbli hatte keine Ahnung, was sie sagen sollte, wenn sie auf Abyss traf. Sicher war, er wollte, dass sie ihm folgte. Vielleicht war es wieder eines seiner Spielchen. Vielleicht nicht. Es spielte keine Rolle. Gibbli erinnerte sich nicht mehr daran, wie lange es gedauert hatte, den Schock zu überwinden, nachdem Abyss ihr weismachen wollte, er sei nicht ihr Bruder und gegangen war. Sie wusste auch nicht mehr, wie sie überhaupt in den MARM gekommen war. Aber an diesen Streit mit Sky erinnerte sich Gibbli gut. Aufgebracht hatte sie den Kapitän angeschrien.

 

„Du sagtest, du lässt niemanden raus! Die Crew bricht auseinander! Du musst dafür sorgen, dass das nicht passiert, stattdessen tust du-“
„Beruhige dich, Gibbli, ich log nicht.“
„Ich will mich aber nicht beruhigen! Er ist weg verdammt! Abyss ist weg! Du hast ihn einfach gehen lassen!“
„Ja, verflucht!“, fuhr Sky Gibbli an. Offensichtlich ließ ihn Abyss‘ Verschwinden doch nicht so kalt, wie er vorgab. „Es lag nicht in meiner Absicht, ich wollte das nicht, nicht so, okay? Und jetzt wirst du diese Berechnungen zur Menge der Körperenergie für den Schild-“
„Du hast ihm das eingeredet! Er würde mich nie - hey - nicht! Lass mich los!“
„Nein, du hörst mir jetzt zu! Er ist gefährlich, Gibbli! Wahrscheinlich war es gut so. Ich überlege mir etwas anderes, okay? Und denk nicht mehr drüber nach, ich lasse nicht zu, dass so etwas wie mit Djego noch einmal-“

 

Weiter war er nicht gekommen. Ihre Faust schmerzte noch und die kleine Schramme an den Knöcheln war gut zu erkennen. Doch das war Gibbli egal. Sie hatte den Kapitän nicht ausreden lassen und ihn mitten in den Bauch getroffen. Damit hatte er nicht gerechnet. Pech für ihn, das hätte er ihr nicht beibringen sollen. Irgendetwas stimmte nicht mit ihm. Seit dem gescheiterten Versuch, die Maschine abzuschalten, verhielt er sich nicht mehr wie er selbst. Der Sky, den sie kannte, wusste, dass Abyss niemals so etwas wie Djego tun würde. Der Kapitän musste es Abyss eingeredet haben. Er musste ihn davon überzeugt haben, dass er eine Gefahr für sie darstellte. Was für ein Unsinn. Oder hatte sie ihn falsch verstanden? Denn seltsamerweise hatte Sky nicht einmal versucht, sie aufzuhalten. Als würde er wollen, dass alle auseinander gehen. Nicht einmal der Oceaner war an Bord geblieben. Sie hatte sich ganz schön erschrocken, als Sekunden vor ihrer Abreise plötzlich jemand mitten durch die Wand getreten war. Dieser Jemand stand gerade auf und entriegelte die Schleusen des MARM.
„Können wir nicht einer hübschen Qualle folgen statt diesem großen, blassen Blobfisch?“, fragte Steven. Angewidert betrachtete er die dreckigen Boote um sie herum.
Gibbli ignorierte ihn und trat an ihm vorbei nach draußen. Insgeheim war sie froh, dass der Oceaner sie begleitete. Die beiden schritten durch einen alten Hafen in einem Außenbezirk von Mooks. Es glich einem Wunder, dass die Risse diesen Ort bisher verschont hatten. Andere Teile der Hauptstadt waren arg in Mitleidenschaft gezogen worden. Sie hatte die Gebiete auf dem Weg hier her mit einem unbehaglichen Gefühl betrachtet. Das Anwesen ihrer Eltern stand nicht mehr. Es hatte sich nur ein paar Abschnitte weiter befunden, in einem angrenzenden Teil von Mooks. Allerdings hatte die Umgebung dort um einiges luxuriöser gewirkt als hier. Jetzt zog sich ein Riss aus verbundenen Raumdimensionen durch die pompösen Gebäude hindurch. Hier jedoch schien alles beim Alten zu sein. Alte Fensterfronten erstreckten sich mit schrägen Decken die schmal angelegten Straßenschächte entlang, teilweise umgeben von verschachtelten Behausungen. Gibblis Vater hatte ihr eins verboten, diesen ärmlichen Bezirk zu betreten. Es war früh am Morgen und nur wenige Bewohner waren um diese Zeit unterwegs. Bestimmt hatten sich auch viele irgendwohin zurückgezogen, wo sie dachten, es sei sicherer. Doch Gibbli wusste, dass es keinen sicheren Ort mehr gab.
„Da lang“, murmelte sie und bog in einen Seitengang ein.
Steven folgte ihr genervt. Zu beiden Seiten des Weges befanden sich gläserne Auslagen zwischen verwinkelten Eingängen. Kleine Hologramme verkündeten die Öffnungszeiten der Läden. Die würden wohl nicht mehr aufmachen. Nicht in dieser Realitätsebene. Sie stiegen eine Rampe hinab in einen anderen Gang, der etwas düsterer wirkte. Ein orangefarbenes Neonschild blinkte in einer Ecke.
„Spürst du meine Macht? Ich könnte sie jetzt gegen dich einsetzen.“
„Schön für dich“, gab Gibbli in Gedanken versunken zurück.
Sie fürchtete ihn nicht mehr. Steven wollte ihr nicht schaden. Er hätte jederzeit alles machen können. Mit der ganzen Crew. Er hätte sie alle längst umbringen können. Aber das hatte er nicht getan. Gibbli dachte an das Spiel. Der Oceaner konnte grob sein, doch seine Absichten waren nicht die schlechtesten. Er hatte immer genau gewusst, wie weit er gehen durfte und die Grenzen nie so weit überschritten, um sie tiefgreifend zu verletzen. Er wollte ihnen nichts Böses und Gibbli war sich sicher, dass er aufgehört hätte, bevor er sie zerstörte. Eine Aufgabe, an der sie nicht wuchs, nicht lernte, würde er nicht zulassen. Steven forderte sie heraus. Doch er ließ ihr dabei die Wahl, selbst zu entscheiden. Außerdem beantwortete er ihr jede Frage, erklärte ihr geduldig all die Technologie und wie etwas funktionierte.
„Danke“, sagte sie leise.
Steven wandte sich ihr zu. „Oh ja, gern. Das hab ich gut gemacht, nicht wahr, mein Schatz?“
„Ja. Das hast du“, bestätigte sie ihm und musste grinsen. Er hatte keine Ahnung, worum es überhaupt ging. Sie drehte sich um und folgte weiter dem Signal auf ihrem EAG.
Brizzelnde Laute deuteten auf beschädigte Leitungen irgendwo in ihrer Nähe hin. Diese Tunnel hatten auch einmal bessere Tage gesehen.
„Ich will nicht da runter, dort ist es dreckig“, jammerte Steven, als Gibbli vor einem Abgang stehen blieb, der mitten in den Meeresboden hineinführte. „Außerdem gibt es dort unten keine Fenster. Warum sucht sich der blasse Schwachkopf ausgerechnet so ein hässliches Gebiet aus?“
„Ich habe dich nicht gebeten mitzukommen“, gab sie mit düsterer Stimme zurück. „Und keine Fenster ist doch gut. Da draußen ist ja sowieso nur Wasser, das ist nass.“
Mit zusammen gepressten Lippen folgte ihr Steven widerwillig. „Als wäre das etwas schlechtes“, meckerte er.
Beunruhigt begutachtete Gibbli einen feinen Sprung in der Außenwand eines Ganges, den sie passierten. Wenigstens befand sich dahinter massiver Fels. Was andererseits gefährlich werden konnte, wenn eines der Beben diese Stelle durchschütteln sollte. Mit einem mulmigen Gefühl schritt sie weiter.
„Okay, sag’s mir, Mädchen“, hörte sie Stevens Stimme direkt hinter sich. „Was hab ich gut gemacht? Das passt nicht zu dir. Warum bedankst du dich?“
Gibbli blieb stehen. „Weil du mitgekommen bist. Weil du ... mich nicht allein lässt.“
„So wie er?“
Auf diese Frage war sie nicht gefasst gewesen. Sie nickte betrübt. „Ja. Wie er.“
„Auch wenn es nicht so aussieht, er gibt dir dennoch nicht die Freiheit, die ich dir schenke. Das solltest du bedenken, Mädchen.“
„Okay“, meinte sie abwesend und blickte auf das Gerät in ihren Händen. Das Signal des am EAG angeschlossenen Ortungsbots endete hinter einem metallenen Schiebetor, direkt vor ihnen. Dieses stand halb offen. Gibbli senkte die Arme und ließ das EAG dann in ihre Tasche gleiten. Im Inneren vernahm sie Stimmen.
Sie zögerte. „Wir können jederzeit neu anfangen, richtig? Deine Worte.“
„Richtig, Mädchen. Das sagte ich.“
„Du wolltest einfach nur, dass ich lebe. Du wolltest mich zum Leben bringen. Nichts anderes.“
„Nichts anderes“, wiederholte Steven.
„Und es macht Spaß. Zu leben.“
Er runzelte die Stirn. „Ja, aber nicht in diesem Drecksloch hier.“
„Ich habe entschieden. Sei still und komm mit“, befahl Gibbli und wandte sich der Öffnung zu. Dann lächelte sie entschlossen.
„Hm. Du warst zu lange mit dem Kapitän zusammen“, murmelte der Oceaner. Dann riss er übertrieben die Augen auf und rief entsetzt: „Warte, nein! Das ist schrecklich! Nicht da rein! Das ist wahrscheinlich das abscheulichste Lokal, das je existiert hat. Hey, wir können noch immer umkehren. Nicht?“
Gibbli nahm einen tiefen Atemzug und trat in die Dunkelheit hinter dem metallenen Tor hinein.
Stickige Luft umgab sie sofort. Es roch nach Algen. Anscheinend funktionierten die Filter nicht mehr richtig oder der Sauerstoffaufbereiter war kaputt. Langsam gewöhnten sich ihre Augen an das schummrige Licht.
„So viel Schmutz! Ich werde hier sterben.“ Steven zwängte sich jammernd hinter Gibbli an den eng angelegten Sitzbänken vorbei.
Diese verteilten sich in kleinen Nischen um Tische, deren Material nicht mehr richtig bestimmbar war. An einigen Stellen schimmerte Metall durch verrostete Flecken hervor. Eine Gruppe von Landmenschen unterhielt sich mürrisch über die viel zu hohen Preise des Meeresexpresses. Gibbli schnappte auf, wie jemand meinte, einer dieser Risse hätte ihn auseinandergebrochen und er wäre jetzt kürzer. Währenddessen knurrten andere betrunken vor sich hin oder führten lallende Gespräche, die niemand verstand. Gibbli blickte sich um. Sie konnte Abyss nirgendwo entdecken. Aber er musste hier irgendwo sein. Steven trat an ihr vorbei und betrachtete neugierig einen kleinen Bildschirm mit verschiedenen Anschlüssen. Eine Rauchschwade schlängelte sich daraus hervor.
„Mit Reparaturarbeiten und ein paar Putzrobotern ließe sich hier bestimmt viel, wie nennt ihr das, Geldeinheiten verdienen“, sagte er.
„Seit wann interessiert dich Geld?“, fragte Gibbli.
„Tut es nicht. Ich versuche nur meine Rolle als Landmensch zu spielen, Mädchen. Das mache ich gut, nicht wahr?“ Steven bahnte sich den Weg an einer runzligen Frau vorbei, die gerade versuchte, etwas in eine Konsole einzutippen. „Bringen wir es schnell hinter uns. Bah, ist das eklig hier.“
Gibbli folgte ihm und duckte sich, als die Frau ausholte. Ihr zerschlissener Hut fiel dabei vom Kopf und gab ein vom Alter gezeichnetes Gesicht frei. Die Konsole, die an einer hervorstehenden Seitenwand angebracht war, gab ein zischendes Geräusch von sich, als die Frau aufgebracht darauf einschlug. Offensichtlich hatte das Computersystem einen falschen Betrag von ihrem EAG abgezogen. An einigen der Tische nahmen Arbeiter müde ein übel riechendes Frühstück zu sich. Gibbli atmete flacher, als der Gestank durch ihre Lunge kroch. Zu allem Überfluss fing jetzt auch noch ein kleines Mädchen an zu schreien. Die überforderte Mutter, die auch dafür zuständig war, den Leuten ihr Essen zu bringen, bemühte sich, das Kleinkind zu beruhigen. Offensichtlich hatte sie niemanden gefunden, der es in ihrer Arbeitszeit beaufsichtigen konnte. Es hörte nicht auf und bevor sie weiter auf das Kind einsprechen konnte, wurde die Frau an einen Tisch gerufen, um eine Beschwerde eines Gastes entgegenzunehmen. Das kleine Mädchen schrie einfach weiter.
Dann fand Gibbli ihn endlich. Er saß seitlich zu ihnen in einer Nische. Bewegungslos starrte er auf die gegenüberliegende Seite des Raumes. Er hatte sie noch nicht gesehen. Vor ihm stand ein Glas mit weißer Flüssigkeit, sie hatte einen leichten Grünstich. Gibbli spürte, wie sich etwas um ihre Füße wickelte, wie ein Seil und sie fühlte sich an diese seltsamen Kreise erinnert, mit denen die Mog sie damals an den Boden gefesselt hatten. Sie starrte dem Oceaner hinterher, der ihn ebenfalls erkannt hatte und jetzt direkt auf ihn zumarschierte. Abyss hob den Kopf, als er vor seinem Tisch stehen blieb.
„Seit wann gibt’s dich doppelt?“ Seine Stimme klang undeutlich.
„Zwei Stevens? Das wäre wundervoll! Oh ja!“
„Ich kann dich beruhigen, ihr goldenen Kackhaufen seid beide hässlich.“
Steven schüttelte den Kopf. „Hat der beschränkte Mensch wieder etwas angefasst, was er nicht anfassen soll?“ Er steckte währenddessen einen Finger in Abyss‘ Glas. „Was trinkst du da schon wieder?“
„Willst du sterben?“, fragte Abyss, die Stirn in Falten gezogen, als würde er ihn gleich angreifen. Doch er bewegte sich nicht.
Steven beugte sich vor und roch am Glas. „Gut gespielt, Mensch. Aber das ist ... Fischmilch?“
„Hm. Glückwunsch, das ist richtig“, meinte Abyss düster. „Ich gebe es zu, ich bin nicht betrunken. Hässlich bist du trotzdem.“
Steven spannte seine Finger an zu Krallen, die aussahen, als könnten sie durch Stahl greifen. „Ich bin der schönste, der genialste, der wunder-“
Gibbli gab sich einen Ruck. Schnell trat sie auf die beiden zu und schubste den Oceaner etwas beiseite, bevor die Männer aufeinander losgehen konnten.
Abyss, der gerade aufspringen wollte, hielt sofort inne, als er sie erblickte. „Nein, das bist du nicht. Aber deine Begleitung ist bezaubernd.“ Seine Stimme war immer leiser geworden. „Perfekt, wie immer.“
Nervös hielt Gibbli dem bohrenden Blick seiner grauen Augen stand. Es schien eine halbe Ewigkeit zu vergehen. Abyss wirkte zufrieden. Das ließ etwas in ihr hochbrodeln. Dieser dämliche Idiot war einfach gegangen! Erneut. Wütend trat sie an ihn heran. Er öffnete den Mund, doch bevor er etwas sagen konnte, holte sie aus und gab ihm eine Ohrfeige. Sein Gesicht zur Seite gedreht, verzog Abyss keine Miene. Langsam drehte er ihr den Kopf wieder zu, während sie ihre Stirn in Falten zog und genervt ausatmete.
„Darin ist sie heute wirklich gut“, flüsterte Steven völlig begeistert.
Doch die beiden ignorierten ihn. Plötzlich verzog Abyss die Lider zu schmalen Schlitzen und legte den Kopf schief, als wollte er versuchen, mehr zu erkennen.
Fragend hob Gibbli die Brauen.
Dann fing er an zu grinsen und fragte in einem Ton, der Skys Stimme bedrohlich ähnelte: „Was hast du angestellt?“
Gibbli nahm einen tiefen Atemzug. Für eine Sekunde zuckten ihre Mundwinkel nach oben. Etwas erleichtert schüttelte sie den Kopf und setzte sich einfach neben ihn. „Frag nicht.“
„Sie hat den Kapitän verprügelt“, rief Steven vergnügt.
Abyss lachte. „Nein, hat sie nicht“, sagte er, ohne sich von ihr abzuwenden.
Niemand erwiderte etwas.
„Wartet, im Ernst? Du hast ... echt?“
Gibbli hob ruhig den Kopf und zuckte mit den Schultern. Das war stark übertrieben, der Kapitän hatte sich nicht einmal richtig gewehrt.
„Mehrmals“, sagte Steven.
Während er Gibbli weiter betrachtete, drückte Abyss ihm sein Glas in die Hand. „Ich nehme an, Sky hat dich auch davon gejagt, Goldhaufen. Geh und hol mir ein neues, da sind deine Bazillen drin.“
„Pah! Nur, dass du’s weißt, der Kapitän hat mir nicht erlaubt zu gehen. Oh, nein. Der Reiz des Verbotenen ist anziehend, das kennst du doch zu gut, Mensch. Der arme Kapitän, jetzt ist er ganz allein mit Jack. Außerdem bin ich hier, um mein Mädchen zu schützen.“ Zu Gibblis Überraschung drehte er sich mit dem Glas in der Hand um und machte sich auf den Weg zur Essensausgabe, wo die junge Frau neben dem schreienden Kind gerade etwas mit einer holografischen Tastatur notierte.
Es fiel Abyss sichtlich schwer, ihm nicht hinterherzurennen und ihm den Schädel einzuschlagen. „Du solltest nicht hier sein“, sagte er leise.
Gibbli verzog keine Miene. „Denkst du, ich lass dich noch einmal so einfach geh’n? Hast du nicht gesagt, das soll ich nicht?“
Er antwortete nicht. Das Geschrei des Kindes drang in Gibblis Ohren. Langsam ging es ihr auf die Nerven. Sie stellte sich vor, was Sky tun würde. Er wäre bestimmt hinüber gegangen, hätte die Frau angesprochen und ihr ganz ruhig gesagt: Guten Tag, sorge dafür, dass es still ist, sonst schieße ich ihre niedlichen kleinen Ärmchen ab, das gibt eklige rote Flecken und das wollen wir ja nicht, danke.
Eine Bewegung zog ihre Aufmerksamkeit auf sich. Abyss‘ Arm war immer weiter an den Rand gerutscht, ganz langsam. Jetzt verschwanden seine Finger unter dem Tisch. Stutzig bemerkte Gibbli, wie er etwas in den Mantel steckte.
„Abyss, was hattest du da in der Hand?“
Er antwortete nicht.
Das konnte doch nicht wahr sein! Dieser Idiot tat es schon wieder? Zornig sprang sie auf. „Das war ein Fläschchen von diesem Gift, nicht wahr? Du hattest es in die Milch gemischt!“
Mit erhobenem Kopf starrte er auf den Tisch.
„Abyss, sag mir, dass das nicht wieder dieses Gift war!“, schrie sie ihn an.
Er schwieg.
„Du hast es mir versprochen!“
„Ich hab’s nicht getrunken, okay?“, knurrte er.
Ja, weil Steven seinen Finger reingesteckt hatte. Das war nicht okay. Das war - „Was bei Ocea?“ Gibbli beobachtete den Oceaner, wie er einem Mann in einer Nische auf der anderen Seite des Lokals feierlich einen Teller Muschelsuppe servierte.
Abyss folge verdutzt ihrem Blick, schüttelte dann den Kopf und entschied, dass er das lieber nicht kommentierte.
Stumm saßen sie da und Gibbli war sich nicht sicher, ob sie enttäuscht sein sollte oder erleichtert, weil sie wohl gerade noch rechtzeitig gekommen waren, um zu verhindern, dass er das Zeug trank.
„Seit Stunden sitz ich vor diesem Glas“, meinte Abyss nach einer Weile. „Ich hab ... gewartet.“
Damit bestätigte er ihre Vermutung. Er hatte ihr also wieder etwas vorgespielt und erwartet, dass sie ihm folgte!
„Deine Milch, närrischer Mensch!“ Der Oceaner knallte plötzlich ein Glas auf den Tisch, wo es überschwappte, und Flecken auf dem Metall hinterließ.
„Pass doch auf du Arschloch!“, rief Abyss und sprang genervt auf.
„Du bist der Arsch“, schrie Gibbli ihn an.
Abyss wandte sich ihr zu, hob eine Faust und packte sie mit der anderen an der Schulter. „Ich hätt’s nicht getan!“
„STOPP!“, brüllte Steven und übertönte damit das kleine Mädchen in der Ecke. Abyss hielt in seiner Bewegung inne und Gibbli, die ebenfalls wütend seinen Arm gegriffen hatte, funkelte den Oceaner an, als dieser langsam fortfuhr: „Die Welt geht drauf und wir sitzen hier in einem stinkigen Loch.“ Er hob demonstrativ beide Arme. „Wir sollten nicht streiten, nein. Nicht an so einem hässlichen Ort. Gehen wir wohin, wo es sauberer ist, dort könnt ihr euch meinetwegen die Köpfe einschlagen.“
Gibbli spürte, wie sich Abyss‘ Griff lockerte. Sich gegenseitig düster anstarrend, setzten sie sich langsam wieder an den Tisch.
„Was genau an den Worten sauberer Ort versteht ihr nicht?“, fragte der Oceaner und fuchtelte genervt um sich. Dann sagte er fröhlich: „Gefällt es euch hier etwa? Ach ja, was für ein dreckiges Abenteuer. Planeten wurden aus Versehen beinahe in die Luft gesprengt.“
„Nicht aus Versehen“, murmelte Abyss dazwischen.
„Menschen wurden zufällig ermordet.“
„Nicht zufällig“, knurrte Abyss.
„Leute ganz unbeabsichtigt mit Messern beworfen.“
„Das war Absicht, dämlicher Goldhaufen!“
„Stinkende Männer haben sich gegenseitig begrapscht und-“
Abyss packte ihn an den Haaren und unter dem Kinn, als würde er ihn würgen. „JETZT HALT DEIN VERFICKTES MAUL!“
„Hört ... hört auf!“, sagte Gibbli und lehnte sich resignierend zurück.
Abyss stieß Steven genervt beiseite und nahm einen tiefen Atemzug. Langsam schien er sich zu beruhigen. Doch dann fing das kleine Kind plötzlich wieder lauter an zu schreien. Der Oceaner blickte Gibbli mitleidig an, als sie sich die Ohren zuhielt. Irgendwie schien es unmöglich, dass sie hier ein normales Gespräch führen konnten.
„Keine Sorge, Onkel Steven macht das wieder gut, ich gehe rüber und-“
Abyss drückte ihn zurück auf die Bank. „Bloß nicht, am Ende veranstaltest du noch ein Wettschreien mit ihr. Ich mach das.“
Er erhob sich, wandte sich von ihnen ab, straffte seine Kleidung und schritt dann in Richtung der Frau mit dem Kind.
„Sei wenigstens nett zu ihr!“, sagte Steven noch.
„Du kannst dich nicht einfach zum Onkel jedes Kindes erklären, mit dem du zusammen stößt, du kennst sie nicht mal, Idiot!“, rief Abyss zurück, ohne sich umzudrehen.
Gibbli beobachtete Abyss, wie er bei der Essensausgabe mit der Frau sprach. Sein charmantes Lächeln dabei versetzte ihr einen schmerzhaften Stich. Nach einer Weile kam er zurück und setzte sich wortlos. Das Kind schrie noch immer.
„Und?“, fragte Steven neugierig.
Abyss kratzte sich verlegen am Kopf. „Hm“, machte er nur. Dann zuckte er mit den Schultern. „Tja, das habt ihr jetzt davon. Ihr wolltet, dass ich nett bin.“
„Was?“, fragte Gibbli und biss die Zähne zusammen. Eigentlich wollte sie es gar nicht hören.
„Weiß nicht wie das jetzt genau passiert ist, aber irgendwie hab ich morgen Abend wohl eine Verabredung mit ihrer Mutter.“
Gibbli sprang auf. „Ich bring sie um.“
Abyss verschränkte zufrieden grinsend die Arme, während Steven ihre Handgelenke festhielt.
„Du weißt, dass es wahrscheinlich kein Morgen Abend mehr geben wird“, tönte seine belehrende Stimme hinter ihr.
Genervt riss sie sich los. „Schon gut. Nimm deine Finger von mir!“ Sie wünschte sich fort, in irgendeinen Maschinenraum, wo es keine dämlichen Frauen gab. „Ich mag dieses Lokal nicht. Was wolltest du überhaupt hier drin?“
Gibbli musste sich zurückhalten, ihm nicht ein weiteres Mal ins Gesicht zu schlagen, als er noch immer grinsend den Kopf hob und begann: „Als ich ein unschuldiger Junge war-“
„Unschuldig?“, fragte sie bissig dazwischen.
„Na schön, als ich noch ein kleiner Junge-“
„Du warst mal klein?“, fragte Steven ungläubig.
„Jetzt lasst mich die Geschichte erzählen! Also, ich durfte hier in der Nähe in eine Wohnung einbrechen, weil sich darin ein paar hübsche Dinge befanden, die mir gehören könnten. Dabei traf ich auf diese zunächst untalentierte, junge Sängerin Namens Jessica Law, sie war die Schwester von Murphy, deren Taxi-“
„Ich will hier raus.“ Gibbli drehte sich um und ging. Sie konnte diesen Gestank nicht mehr ertragen.

 

„Hey! Kenne ich dich nicht? Wirst du nicht gesucht?“, fragte eine Stimme, nachdem Gibbli das Lokal verlassen hatte. Vor ihr stand plötzlich eine Soldatin der Akademie.
Sie reagierte sofort und griff nach Abyss‘ Messer im Stiefel. Die Soldatin zog einen Strahler und brachte ihn in Position. Gibbli duckte sich und traf sie am Bein. Die Klinge blieb stecken. Ein Schuss zischte direkt an ihrer Schulter vorbei. Verdammt, diesen Kampf würde sie verlieren!
Dann tauchten zwei goldene Hände wie aus dem Nichts auf. Steven ließ den Hals der überraschten Frau wieder los, die mit würgenden Lauten zusammenbrach.
Gibbli zog am Griff. Das Messer löste sich aus dem Fleisch und sie wischte es an der Hose ab. Diese Soldatinnen sollten sich bloß von ihr fernhalten.
Steven wirkte begeistert. „Ah, das würde dem Kapitän nicht gefallen, nein.“
„Sky ist nicht hier“, sagte Gibbli kalt. „Außerdem hast du sie erwürgt. Nicht ich.“
Abyss war hinter ihnen aus dem Gebäude getreten. „Genau solche Momente sind es, die mich vergessen lassen, dass du erst fünfzehn bist.“
Gibbli ignorierte seine Worte, bückte sich und griff nach der Waffe der Soldatin. Gedankenversunken hielt sie den Strahler vor sich und betrachtete ihn.
Abyss grinste verwegen. „Besitzt du nicht bereits eine Waffe?“
„Kann man je genug davon haben?“, fragte sie zurück und richtete sich wieder auf.
„Willst du mich provozieren? Was du hier gerade abziehst, ist ziemlich gefährlich. Du spielst mit dem Feuer, kleine Schwester! Wenn ich dich verletze-“
„Das tust du doch längst. Immer und immer wieder“, unterbrach Gibbli ihn. Das alles hier war einer seiner dämlichen Pläne. Sie waren hier, weil er es so wollte. Und sie hatte das so verdammt satt! „Wie wär’s, wenn du damit aufhörst, mich manipulieren zu wollen? Vielleicht schenk ich sie dir ja dann eines Tages.“ Sie steckte den Strahler der Soldatin in ihre Werkzeugtasche zu dem anderen. „Und jetzt möchte ich gerne wo anders hin. Oder ist das hier der Ort, an dem ihr den Weltuntergang verbringen möchtet?“
Abyss schwieg einen Moment, dann sagte er: „Ich kenne da einen netten Platz, nicht weit von hier, im Gebiet der Hochseemenschen.“

 

Allmählich verrauchte Gibblis Wut etwas. Sie versuchte Abyss nicht anzusehen, wissend, dass er sie beobachtete. Doch er schlich sich immer wieder in ihr Sichtfeld. Warum gab er sich überhaupt mit ihr ab? Die beiden saßen im hinteren Teil des MARM, den Steven gerade an einem großen Riss zur Raumzeit entlang steuerte. Gibbli verschränkte die Arme und blickte nach draußen.
„Lass mich das wieder etwas abkürzen“, sagte Abyss. „Was denkst du, Gibbli? Nichts, Abyss. Du denkst sehr viele Nichtse und ich denke nicht, dass du in der Lage dazu bist, nichts zu denken. Und jetzt ...“, Abyss streckte die Hand nach ihrem Arm aus und zog ihn zu sich heran. „Werde dir klar, wer hier neben dir sitzt.“
Er umschloss die Finger ihrer linken Hand. Düster presste sie ihre Lippen aufeinander. Unsicher, ob sie sich losreißen sollte oder nicht, schloss Gibbli kurz die Augen.
„Du kannst mir alles sagen, das weißt du.“
Ja, wenn er mal da war. Und nicht gerade wütend auf sie war oder sie anschrie. „Auch wenn es mit dir zu tun hat?“, gab sie leise zurück.
„Dann möchte ich’s erst recht wissen.“
Was kümmerte es ihn, was sie beschäftigte? Gibbli schüttelte den Kopf. Er sagte etwas, um sie dann im nächsten Moment wieder zu verletzen. Das tat er doch immer. Wenigstens würde er nicht mehr viele Gelegenheiten dazu bekommen, dachte sie deprimiert, denn bald würden die Raumzeitrisse dort draußen sie alle verschlingen.
Abyss nahm einen tiefen Atemzug. „Dein Schweigen lässt mich durchdrehen. Du weißt, ich kann jede Rolle für dich spielen, die du möchtest.“
Ja. Er konnte alles sein und haben. Es gab keinen Grund, jemanden wie sie zu beachten. Abyss tat immer das, wozu er gerade Lust hatte. Auf Gibbli hatte er aber sicher keine Lust. Das hatte er ihr immer wieder gezeigt. Und sie hatte keine Lust mehr auf seine Rollen.
Mit einem Ruck drehte er sich plötzlich, sodass er halb auf ihr saß. Erschrocken stieß Gibbli die Luft aus, als Abyss sie an den Schultern packte und gegen die Lehne des Sitzes presste. Sie keuchte auf, doch er hielt ihr sofort den Mund zu und ihr Schrei wandelte sich in ein ersticktes Wimmern.
„Hey, Menschlein“, rief Steven vom Steuer aus. „Was ist dort hinten los?“
Schnell ein und ausatmend riss sie die Augen auf. Abyss‘ Gesicht war plötzlich dem ihren so nahe, dass sich ihre Nasenspitzen berührten. Wieder wimmerte sie. Abyss schüttelte den Kopf und legte seinen Maschinenfinger auf seine Lippen, um ihr zu bedeuten, still zu sein. Doch es waren die grauen Augen, sein alles durchbohrender Blick, der sie verstummen ließ.
„Was treibt ihr da, ohne mich?“, fragte Steven wieder. „Soll ich anhalten?“
„Nein“, rief Abyss zurück. „Wenn ich das Teil steuere, fahr ich’s zu Schrott. Deine Worte, Goldmännchen.“
Gibblis Atem beruhigte sich ein wenig.
„Mädchen?“
Abyss nahm langsam seine Hand von ihrem Mund und legte beide stattdessen an ihre Schultern. Sein Griff wurde fester und er drückte ihren Körper noch stärker gegen die Rückenlehne. Erwartungsvoll nickte er nach vorne.
Gibbli dachte keinen Moment daran, Steven um Hilfe zu rufen. „Fahr weiter“, rief sie mit heißerer Stimme. So wie sie den Oceaner kannte, hätte er sowieso nur genüsslich zugesehen.
Für den Bruchteil einer Sekunde zuckten Abyss‘ Mundwinkel nach oben. Dann wurde seine Miene wieder ernst. „Also, sag, was denkst du über mich?“, fragte er leise, ohne auch nur einen Millimeter von ihr abzuweichen.
Gibbli spürte seinen warmen Atem an ihrer Haut. Erst würde er ihr einreden, sie sei wichtig und dann würde er sie alleine lassen. Wie immer. „Du wirst mir wehtun.“ Wieder und wieder und wieder. Und sie würde es ihm wieder und wieder verzeihen. Einfach nur, weil er er war.
Einen Moment schwieg er. Sein Griff wurde noch fester, fast schmerzhaft. „Willst du, dass ich dich verletze?“, fragte er dann.
Nein, verdammt! Natürlich nicht! Was war das denn für eine bescheuerte Frage? „Ich halte das nicht mehr aus, Abyss“, sagte sie leise.
„Ich möchte das auch nicht, Gibbli.“
Sprachen sie überhaupt über das gleiche? „Ich meine nicht wie ... wie ...“
„... der Brotmensch es tat?“
Gibbli nickte.
„Wie meinst du es dann? Erklär’s mir“, forderte er mit ernster Stimme.
Mit zusammen gepressten Zähnen atmete sie ein. Am Ende würde er ja sowieso wieder gehen. Das hatte er ihr immer wieder gezeigt. Sie war nicht genug. Er war stark, anmutig, charmant, anziehend, einfach der perfekte Mensch. Er besaß die Kontrolle. Und Gibbli war ein kleines Kind, nicht würdig, dass man sich mit ihr abgab. Sie war es nicht wert, seine Schwester zu sein. „Abyss, bitte, lass mich los.“
„Nein“, sagte er ruhig. „Das willst du nicht.“
„Woher weißt du das?“
„Weil ich Menschen lesen kann, jede kleinste Regung ihres Körpers, ihrer Mimik. Das ist mein Talent, Gibbli. Ich merke sofort, wenn was nicht stimmt. Ich weiß, wie sie denken und was sie wollen, besser als sie selbst. Das muss ich, wenn ich sie dazu bringen will, das zu wollen, was ich will. Wenn ich dich frage, wie es dir geht, dann kenne ich die Antwort bereits. Denn ich mag keine Überraschungen, Gibbli. Ich weiß durchaus auch jetzt, worum es geht.“
„Wenn du es sowieso weißt, warum fragst du dann immer wieder, was ich denke?“
„Weil ich es verdammt noch mal von dir hören möchte! Du sollst nicht darüber nachdenken, was andere von dir erwarten. Ich will, dass du mir sagst, was immer dir durch den Kopf geht und nicht das, was du denkst, was ich oder irgendjemand von dir erwartet. Sprich mit mir. Jeder hat Geheimnisse. Willst du eins hören? Sky liebt mich.“
Gibbli schluckte genervt.
„Natürlich würde er das niemals zugeben, weil er weiß, dass es mir scheiß egal ist. Aber es kümmert mich, wenn dich etwas bedrückt.“
Wenn es ihn angeblich kümmerte, warum machte er dann alles, um genau dieses bedrückende Gefühl zu verstärken? Er wusste, dass seine Worte sie verletzten sowie die Tatsache, dass er sie ständig allein zurückließ. „Warum? Abyss, warum? Warum tust du so, als wär ich dir wichtig und hältst mir dann immer wieder vor, wie unbedeutend ich in deinen Augen bin! Das ist mir doch klar!“
„Genau darum, Gibbli. Weil ich will, dass dieses Gefühl so stark wird, dass du es aussprichst. Es wär so viel leichter, wenn du das direkt von Anfang an sagen würdest. Denn es bringt keinem von uns etwas, wenn ich das tue. Du würdest mir nicht glauben, wenn ich dir sage, diese lächerlichen Gedanken, die du schon dein ganzes Leben lang mit herumschleppst, sind Mist. Das musst du selbst rausfinden, um es zu begreifen. Ich will dich nicht verletzen! Denkst du, das fällt mir leicht? Ich liebe dich, verdammt! Aber das glaubst du mir auch nicht und ich ... ich weiß langsam nicht mehr, was ich noch tun kann, wie weit ich selbst noch im Stande bin zu gehen, denn es tut mir auch weh, Gibbli. Es tut verdammt weh, zu sehen, was es mit dir anstellt, was ich mit dir anstelle. Und was du über dich denkst.“ Abyss verstummte. Er hielt sie nicht mehr fest. Stattdessen nahm er wieder ihre Hand und strich behutsam ihre Finger entlang. „Das ... mein Problem ist, dass mir in deinem Chaos manchmal der Durchblick fehlt. Das ist mir noch nie bei irgendjemandem passiert und damit muss ich klar kommen. Aber das schaffe ich nur, wenn ich mir sicher sein kann, dass du wichtige Dinge ansprichst, an die ich nicht herankomme. Und jetzt sag was! Sag was. Bitte. Wovor fürchtest du dich? Dass du keine Angst vor physischen Verletzungen hast, das wissen wir beide.“
Sie blickte ihn offen an. „Ich bin nicht gut genug.“
„Du bist nicht gut genug“, wiederholte Abyss ernst.
„Ja.“ Ihre Aufmerksamkeit folgte seinen Fingern an ihrer Hand. „Nicht für den Kapitän, nicht für die Crew und ... und erst recht nicht für dich.“
„Nicht für mich“, sprach er leise nach.
„Ja!“, sagte sie fest. „Ich könnte deine Erwartungen doch niemals erfüllen.“
Abyss nickte und ihre Hand entglitt seinen Fingern. Er setzte sich wieder neben sie. Es fühlte sich an, als wäre ihr alle Wärme entzogen worden. Niedergeschlagen starrte Gibbli auf ihren Daumen, als könnte sie seine unsichtbare Spur darauf irgendwie festhalten.
„Woher willst du wissen, was ich erwarte?“, fragte er nach einer Weile. Den Körper von ihr abgewandt drehte er ihr den Kopf zu. „Du hast mich nie gefragt.“
„Ist das nicht offensichtlich?“
„Offensichtlich ist nur, was du denkst, was ich von dir erwarte.“
Sie runzelte die Stirn. „Du bist ein Mann!“
Seine Mundwinkel zogen sich nach oben. „Offensichtlich.“
Na toll, verspottete er sie jetzt? „Und du stehst eindeutig nicht auf ... andere Männer.“
„Wie‘s aussieht, nicht.“ Sein Blick schien Gibbli wieder zu durchbohren, als würde er ihr alle Klamotten vom Leib reißen wollen.
„Du bist so viel älter als ich!“
Er nickte. „Fast 15 Jahre älter.“
„Und einen halben Meter größer als ich.“
„Ja“, sagte er schlicht.
Wie konnte dieser Idiot nur so ruhig bleiben? Er hatte sie verdammt noch mal schon wieder verletzt! „Du hast mir doch gerade bestätigt, was du von mir hältst!“, fauchte sie ihn an.
„Nein“, sagte er gelassen. „Ich hab nur wiederholt, was du selbst von dir hältst und was du denkst, was andere von dir halten.“
„Du bringst mich um den Verstand!“
„Ich weiß.“
Gibbli schüttelte fassungslos den Kopf. „Abyss, was ... was erwartest du von mir?“
„Gar nichts.“
Sie starrte ihn an. Aha. Wozu dann das ganze? Warum war er überhaupt hier? Warum war sie so dämlich, ihm nachzulaufen? „Aber ... du ...“
„Es gibt kein Aber.“ Er kam wieder näher auf sie zu, hockte sich vor sie auf den Boden und stützte sich links und rechts an den Armlehnen ihres Sitzes ab. „Ich habe absolut keine Erwartungen an dich. Du bist perfekt. Egal, was du machst.“
Gibbli öffnete den Mund und schloss ihn wieder. „Nein, du wirst ...“ Sie brach ab.
„Was werde ich?“, fragte er und hob erwartungsvoll die Augenbrauen.
„... eine andere ... du ... jetzt hilf mir doch, wenn du sowieso glaubst, zu wissen, was ich denke!“ Sie fürchtete sich vor seiner Antwort.
„Du denkst, ich werde dich fallen lassen und mir andere Menschen suchen, die älter sind, erfahrener als du, die mir geben können, was du nicht kannst oder möchtest?“
„Was ... ich ... ja!“
„Wie genau stellst du dir das vor?“
Gibbli schnappte nach Luft. Was war denn das wieder für eine dämliche Frage?
„Halt, nein. Stopp! Ich seh‘ dich schon in meine Abgründe denken.“ Abyss schloss für einen Moment die Augen. „Stell es dir lieber nicht vor. Ich kann es mir nämlich selbst nicht vorstellen. Gibbli, das ist unmöglich. Ich kann andere Menschen nicht ausstehen! Denkst du im Ernst, ich zieh mich vor jemandem aus und leg meine Messer ab? Niemals! Dafür müsste ich ... vertrauen.“ Er beobachtete sie mit dieser vollkommenen Aufmerksamkeit, wie nur er es konnte.
Beinahe zerstreuten sich Gibblis Zweifel. „Bedeutet das ... du hast noch nie ... aber deine Geschichten ... all diese Frauen, die du verführt hast ...“
„Sind das, was sie sind. Geschichten“, erwiderte er „Nur Geschichten, Gibbli. Nichts weiter. Rollen, die ich spielte. Das ganze Leben ist ein Spiel. Und auch jetzt spiele ich diese Rolle, um dich zu provozieren. Damit du endlich offen mit mir sprichst. Alles was ich sage und mache, tu ich nur für mich und für dich. Nur für uns beide.“
„Uns?“, wiederholte sie leise.
Abyss lehnte sich weiter nach vorne. „Für niemanden sonst.“
Nicht ganz sicher, was sie davon halten sollte, lehnte sich Gibbli zurück. Ein kleiner Fischschwarm bildete sich auf einer Seite des MARM. Wie eine düstere Wolke zogen sie an den Fenstern vorbei.
„Gibbli“, sagte Abyss leise, um ihre Aufmerksamkeit zurückzugewinnen.
Als könnten sie Gedanken übertragen, änderten die einzelnen Tiere alle gleichzeitig ihre Richtung. Diese Art von Bewegung fand Gibbli schon immer faszinierend. Sie wandte sich ihm wieder zu. „Das widerspricht deinen Taten, Abyss. Du bist gegangen.“
„Und wieder gekommen.“
„Und wieder gegangen!“, rief sie zornig. Gibbli hatte dieses Lügen so satt!
„Doch nur, damit es dich so sehr mitnimmt, dass du es mir ins Gesicht schreist! Ich wär zurückgekommen, um dich zu holen, wenn du nicht selbst zu mir gekommen wärst, weil ich gar nicht anders kann. Das erste Mal, als das mit dem Jungen passierte, war ich blind, okay? Ich hab’s nicht geseh‘n, genau darum geht es doch. Darum wollt‘ ich sichergeh‘n, dass das nicht wieder passiert, darum ging ich noch einmal, um rauszufinden, wie du darauf reagierst. Verstehst du das?“
Gibbli war sich nicht sicher. „Nein“, sagte sie, ohne ihn anzusehen. Die Hälfte der kleinen Fische draußen verfärbte sich plötzlich schwarz, als sich ein langer Riss bildete. Steven umsteuerte ihn sofort. Der Schwarm schien regelrecht von dem neu gebildeten Nichts aufgefressen zu werden. Mittlerweile verstreuten sich die Gravitationszeitöffnungen über den ganzen Ozean.
„Gibbli, ich könnte dich nie alleine lassen. Ich wär wieder gekommen. Denn dass ich dich jagen würde, war ernst gemeint. Ich wollte, dass du mir folgst, egal welche Gefahr für dich von mir ausgeht. Ich musste wissen, ob du das tun würdest. Das war mir wichtig.“
Sie schüttelte leicht den Kopf. „Gefahr? Dein Kuss machte mir keine Angst, sondern ...“
„... dass ich fortwollte. Ist mir aufgefallen.“
Gibbli beobachtete den übrig gebliebenen Teil der Tiere. Die überlebenden Fische schreckten verwirrt in alle Richtungen davon. „Was muss ich tun, damit du damit aufhörst, mich zu testen?“, fragte sie leise.
Ein paar Sekunden blickte er sie einfach nur an, dann sagte er: „Akzeptieren, dass du es wert bist. Denn das bist du. Ich hätte dich nie mitgenommen, wärst du es nicht.“
Ungläubig schüttelte sie den Kopf. „Das ist krank, Abyss. Du bist ein Idiot.“
„Dann musst du mit diesem Idioten klar kommen. Denn du wirst mich nicht mehr los. Niemals.“
Gibbli schwieg.
Er zögerte einen Moment, als wäre er sich seiner Worte nicht sicher, doch dann sagte er mit fester Stimme: „Okay. Ich hör damit auf. Dafür wirst du aufhören, mir zu misstrauen und aussprechen, was immer dir auf dem Herzen liegt. Was hältst du davon?“
War das ein weiterer Trick von ihm? Beinahe unbewusst schüttelte sie den Kopf.
Er strich über ihre Stirn und schob vorsichtig ein paar der hellbraunen Haare beiseite. „Du hast noch immer Angst. Dafür gibt es keinen Grund. Lass sie los. Jetzt.“
„Und dann wirst du mich nicht mehr manipulieren?“ Sie versuchte, seine Berührung zu ignorieren.
„Nein, Gibbli.“ Schon wieder war er ihr viel zu nah. „Ich werd dich immer manipulieren und beeinflussen. Genauso, wie du mich.“
Sie spürte die abstrahlende Wärme seiner blassen Haut in ihrem Gesicht. Gibbli legte ihre Hände auf Abyss‘ Oberarme und wollte ihn wegdrücken. Doch er redete einfach weiter, als würde sie ihn nur festhalten.
„Ich kann dir nicht versprechen, dich niemals mehr zu verletzen. Ich werde immer wieder Dinge sagen, die dir nicht gefallen. Aber ich versichere dir, dass alles, was ich tue, nur zu deinem Besten ist.“ Er hielt inne. „Gibbli, ich schenke dir mein Vertrauen, wenn du mir dein’s schenkst.“
Ihre angespannten Arme, mit denen sie noch immer versuchte, ihn auf Abstand zu halten, wurden lockerer. Abyss vertraute niemandem. Niemals. Und er wollte es ihr schenken?
„Hey meine vertrauten Menschlein! Wir sind gleich da. Der geniale Oca hat es geschafft, euch heil durch das Todeslabyrinth der Nichtse von Raumebenen zu manövrieren. Macht euch bereit.“
Abyss Stirn berührte die ihre, als er flüsterte: „Vertraust du mir, Gibbli?“
„Ja.“
Abyss ließ sie los. Kurz sah er sie an. Dann stand er auf. „Okay.“ Er lächelte glücklich und die kleinen Falten an seinen Augen, die Gibbli so sehr liebte, vertieften sich. „Es bedeutet mir viel, dass du mir gefolgt bist.“ Als seine Finger nach dem langen Mantel griffen, verloren Abyss‘ Augen ihr Leuchten. Er rieb sich über die Lieder und sprach leise weiter. „Vertrauen, na schön. Die Wahrheit. Der Hauptgrund, warum ich von der Mara fortmusste, war nicht, um dich zu testen. Es war Jack. Sky lässt mich ihn nicht umbringen, er muss es tun, aber er tut es einfach nicht. Seine verdammte Gerechtigkeitsscheiße hält ihn davon ab. Und egal was ich sage, der Kapitän lässt sich nicht überzeugen, nicht ohne Grund.“
„Du bist auch wegen Jack gegangen?“
Abyss verharrte für einen Moment und nickte dann. „Ja. Ich hielt es in seiner Nähe nicht länger aus. Jack ist gut darin, andere zu zwingen, Dinge zu tun. Und ... ich hatte Angst, Gibbli. Dass er mir die Kontrolle nimmt.“
Diese Worte hatte sie nicht erwartet und Gibbli wusste nicht so recht, was und ob sie darauf etwas erwidern sollte. Doch es sah nicht so aus, als erwartete er, dass sie darauf einging.
Eine Glaskuppel kam in der Ferne zum Vorschein. Sie schien intakt zu sein. Gibblis Blick strich über Abyss‘ Schultern, die sich erleichtert entspannten. Der Strich einer Narbe hob sich von der blassen Haut ab. Sie konnte einen Teil des letzten Buchstabens auf seinem Rücken erkennen. Der Rest ihres Namens lag verborgen unter dem ärmellosen Hemd.
„Abyss?“, überwand sich Gibbli zu fragen, während sie eine Schnalle ihrer Werkzeugtasche fester zog.
Ein leichtes Ruckeln ging durch das U-Boot. Steven leitete den Andockvorgang des MARM ein.
„Hm?“, fragte er, ohne sie anzublicken, und schlüpfte in die dunkelblauen Ärmel.
Gibbli schloss die Augen. „Sind wir noch Geschwister?“ Als er nicht antwortete, öffnete sie ihre Augen wieder und blickte plötzlich direkt in sein lächelndes Gesicht.
„Natürlich. Wir waren nie was anderes.“

 

„Langsam“, murmelte Abyss etwas später und blickte sich misstrauisch um. Die drei hatten gerade die Hütte des Mönchs betreten und schritten durch den Gang in Richtung des großen Hauptzimmers.
„Ich habe mich immer gefragt, wie du hier nur leben konntest.“ Ungläubig hob Steven zwischen Daumen und Zeigefinger einen verdreckten Stiefel an, der verkehrt herum auf einem stuckverzierten Seitentisch lag. Angeekelt betrachtete er ihn. „Uahh, hier gehört dringend aufgeräumt.“
Abyss riss ihm den Stiefel aus der Hand und stellte ihn, ebenfalls verkehrt herum, zurück auf den Tisch. „Wenn deine Finger hier auch nur noch ein Haar anfassen, dann brech ich sie dir alle einzeln und-“
„Du wärst überrascht, wenn du wüsstest, was meine perfekten Finger hier schon alles berührt haben.“
Abyss‘ Augen verzogen sich zu Schlitzen.
„Was ist, Mensch? Das hier war immer wie ein Ersatzteillager für mich. Hier konnte ich holen, wenn ich was brauchte und keine Lust auf Suchen hatte. Ocea ist riesig und der Mönch hat doch alles netterweise vom Meeresgrund geborgen und hier gesammelt. Danke übrigens, das war sehr nett von euch, ihr habt mir damit viel Arbeit erspart.“
Abyss ballte die Hände zu Fäusten. Dann atmete er tief ein und schien es sich anders zu überlegen. Abrupt wandte er sich von ihm ab. „Hier stimmt was nicht. Jemand war oder ist noch immer hier.“
Sie folgten ihm zur Öffnung des Hauptraumes.
„Bo?“, fragte Gibbli überrascht, als sie um die Ecke bogen. Bo stand vor dem Kamin und stocherte in ein paar Zweigen herum, offenbar nicht so recht wissend, was sie damit anstellen sollte.
„Gibbli! Steven, Abyss! Oh, ich bin so froh, euch zu sehen!“ Sie sprang auf, rannte auf sie zu und breitete ihre Arme aus. Dann fiel sie Gibbli um den Hals.
Unbehaglich wartete Gibbli, bis die blasshäutige Frau endlich von ihr abließ.
„Weißt du was?“, fragte Bo.
„Was?“ Vorsichtshalber trat Gibbli einen Schritt zurück, bevor Bo sie wieder berühren konnte.
„Ich weiß nicht, das war eine Frage, ich hab’s vergessen. Seht ihr, ich bin ganz durcheinander.“
„Gedankenchaos ist einfach schön, nicht wahr?“, meinte Steven, ließ sich auf die Couch fallen und legte die Füße hoch.
Abyss zündete das Feuer an, wobei Bo ihn neugierig beobachtete. Gibbli machte es sich auf einem der gepolsterten Sessel direkt davor gemütlich. Eine angenehme Wärme ging von den Flammen aus.
„Warst du bei den Tiefseemenschen?“, fragte Steven von einer Couch aus, auf der er wie ein König zwischen altmodischen Kissen lag, als würde sie ihm gehören.
„Ja! Ich war dort!“, berichtete Bo. Sie setzte sich ihm gegenüber und gestikulierte aufgeregt mit ihren Händen in der Luft herum. „Nox und Esjay geht es gut. Aber ein großer Teil ihrer Städte ist zerstört. Diese Risse sind fast überall! Und die Tiefseemenschen wollten mich nicht aufnehmen, ich durfte nicht bleiben. Das hier ist der einzige Ort, den ich sonst noch kenne, ich wusste nicht, wo ich hinsoll. Ich verstehe einfach nicht, warum Sky das gemacht hat. Hat er euch auch fortgeschickt?“
„Mich nicht, mich schickt niemand fort, oh nein, ich bin sehr beliebt, weißt du?“, sagte der Oceaner hochnäsig.
„Warum eigentlich?“, fragte Abyss und blickte von der heißen Tasse Tee auf, die er für Gibbli gerade an einer Konsole eingoss.
„Warum?“ Entrüstet streckte Steven die Brust heraus. „Weil ich einfach großartig bin und-“
„Nein, du Trottel, warum hat er dich nicht weggeschickt, aber uns alle ließ er gehen?“ Abyss stellte die Tasse auf einen kleinen Tisch vor ihnen und holte sich eine eigene.
„Er mag mich eben.“ Steven zuckte mit den Schultern. „Das bedeutet, euch mag er nicht. Haha! Er hat mich viel lieber als euch.“
„Warum soll er dich lieber mögen?“, fragte Bo.
Steven setzte zu einer Antwort an. Gibbli war sich sicher, er zählte der Hybridenfrau Gründe auf, warum er sich für ach so toll hielt. Doch Gibbli hörte ihm nicht mehr zu. Sie zog eine bunt gemusterte Decke um sich und lehnte sich in ihren Sessel. Währenddessen beobachtete sie Abyss, der sich neben ihr vor den Flammen auf den Boden setzte. Seine hellblonden Haare spiegelten das orange-rötliche Licht des Feuers wieder. Und er starrte zurück.
„Du hast das nicht ernst gemeint“, sagte Gibbli leise, ohne dass die anderen beiden es hören konnten. Sie hatte lange darüber nachgedacht. Dass das hier von ihm eingefädelt worden war, hatte er bereits zugegeben.
„Was genau denkst du, habe ich nicht ernst gemeint?“, fragte er ebenso unauffällig zurück.
„Dass du dich nicht zurückhalten kannst. Dass du ... über mich herfallen wirst. Ich glaube dir nicht.“
„Du kennst die Antwort. Wie kommst du jetzt darauf?“
„Weil alles, was du sagst, einen Grund hat.“ Es war nicht Sky, der ihn überredet hatte zu gehen. Abyss wollte es selbst und hatte den Kapitän dazu gebracht, zu glauben, dass er ihn wegschickte, doch irgendetwas störte sie daran, Gibbli kam nicht darauf, was. Seine Worte vorhin über Jack hatten sie verunsichert. „Du fürchtest dich nicht vor Jack. Du hast dich immer unter Kontrolle. Du würdest sie nie verlieren, oder?“
„Würde ich das?“, fragte er und hob die Augenbrauen. Ein drohender Unterton schwang in seiner Stimme mit. „Was ist, wenn ich entscheide, sie zu verlieren?“ Er grinste gespielt, drehte sich um und starrte ins Feuer. Sein Gesicht wurde wieder ernst. „Das hab ich bereits getan. Mehrmals.“
Die Stimmen von Bo und Steven drangen wieder an ihre Ohren, doch Gibbli versuchte, sie auszublenden. Sie hoffte, Abyss würde von sich aus weitersprechen, doch er sagte nichts mehr. Diese Sache mit Jack musste wirklich etwas sein, was ihm zu Schaffen machte. Jack war doch allein auf der Mara, ohne seine Soldaten.
„Wieso hast du solche Angst vor Jack?“, fragte Gibbli vorsichtig.
Abyss zögerte. Ohne sie anzusehen sagte er langsam: „Weil er eine Macht besitzt, andere so sehr zu verletzen, dass ... er ist dazu im Stande allein mit Worten und Wissen, andere zu kontrollieren.“
„So wie du.“
Noch immer starrte er ins Feuer. „Ja. Nur tut er das mit Vorderrungen, die so grausam sind, dass selbst ich sie als abscheulich empfinde.“ Abyss atmete tief ein und hielt einen Moment inne, bevor er fortfuhr. „Gibbli, er fand etwas, was mich dazu zwang, Dinge zu tun, die ich niemals tun wollte, an die ich nie auch nur gedacht hätte sie zu tun.“ Endlich wandte er ihr sein Gesicht zu. „Ich fürchtete, dass er das wieder schafft. Und mit jeder Sekunde in seiner Nähe, in der ich dich ansehe, wächst diese Angst. Was wenn er es irgendwie schafft, dass ich dich verletze?“
Gibbli blickte ihn direkt an. „Das würdest du nicht.“
„Das hab ich bereits, anders als gedacht, aber das hab ich. Dass ich dich zurückließ, war eine blöde Idee, das merkte ich schon, als ich es dir sagte, dass ich gehe, aber ich bin eben niemand, der Gesagtes einfach zurücknimmt. Und da ich sowieso von ihm wegmusste, dacht ich einfach, es wär eine Gelegenheit.“
„Zu testen, ob ich dir folge.“
Er lächelte. „Jeder andere auf diesem Planeten hätte es nicht getan. Nur du. Du bist gekommen. Ich bin so stolz auf dich, das kannst du dir nicht vorstellen. Und ich hör auf damit, wir haben das jetzt abgemacht. Nie mehr, du hast mein Wort.“
Eine Weile lauschte Gibbli dem Knistern des Feuers.
„Wirst du deine Messer bei mir ablegen?“, fragte sie leise, als Abyss ein Holzscheit nahm und es in die Glut warf.
Er verbrannte sich an den Flammen und fluchte auf. Dann wandte er sich Gibbli wieder zu. „Dazu wird es nicht kommen! Niemals. Das lasse ich nicht zu. Darüber reden wir, wenn du älter bist.“
„Das meinte ich nicht so“, gab Gibbli kühl zurück und fast hätte sie ihn wiederholt einen Idioten geschimpft. „Und nur zu deiner Information. Wann hast du das letzte Mal aus dem Fenster gesehen? Ich werde nicht mehr recht viel älter. Keiner von uns.“
Er stützte beide Arme auf der Lehne ihres Sessels ab, legte seinen Kopf darauf und blickte sie durchdringlich an. Dann murmelte er: „Nur zu deiner Information. Das einzige Messer, das zählt, steckt seit einer halben Ewigkeit in deinem Stiefel.“
Gibbli lachte. „Das sagst du doch nur, um zu bekommen, was du willst.“
Er nickte. „Ja.“
Sie nahm die heiße Tasse vom Tisch, um sich von seinen bohrenden Augen abzulenken.
„Ist schön, eine Schwester zu haben, die jede Frau umbringen will, der ich zufällig, ganz unabsichtlich natürlich, zu nahe komme. Das ist gut. Lass dich nur nicht aufhalten, dann muss ich das nämlich nicht tun.“
Gibbli stieß schnaubend die Luft aus. „Wenn ich dir nicht gefolgt wäre, wärst du also zurückgekommen und hättest dir einen neuen Plan ausgedacht“, sagte sie, um wieder auf das Thema zurückzukommen, und trank vorsichtig einen Schluck.
„Das Thema lässt dich nicht los, hm?“
Gibbli zuckte mit den Schultern. „Ich weiß es nicht, es ist einfach ... keine Ahnung. Irgendwas passt nicht zusammen.“ Etwas, das mit dem Kapitän zu tun hatte.
„Worauf willst du hinaus?“
Sie war sich nicht sicher. „Du hast das alles geplant. Aber denkst du, Sky hätte zugelassen, dass du zurückkommst, wenn ich dir nicht gefolgt wäre? Er wollte ja, dass du gehst. Ich dachte erst sogar, er hätte es dir eingeredet.“
„Nun, ja. Möglicherweise denkt er das“, sagte Abyss.
„Also hat er nicht dich überredet, sondern du ihn so manipuliert, dass er auch wollte, dass du gehst?“
Abyss schüttelte den Kopf. „Ich wünschte, ich könnte dir sagen, ja. Aber Sky lässt sich nicht manipulieren. Frag mich nicht, wie er das anstellt, irgendwie funktioniert das bei ihm nie. Es ist schon schwer, ihn überhaupt so weit zu bringen, dass er die Kontrolle verliert. Ich denke, seine Pläne haben sich zum Teil mit meinen gedeckt, was auch immer für Pläne in seinem kranken Hirn herumgeistern.“
„Und das heißt was?“, fragte sie.
„Das heißt, eigentlich wollte er sogar, dass ich dich mitnehme. Seltsam, oder? Obwohl er immer versucht hat, mich von dir fernzuhalten. Angeblich nicht, weil er mich mag, sondern weil er dich vor mir beschützen wollte. Seine Worte, nicht meine. Ich hingegen wollte aber, dass du mir selber folgst. Darum war er wohl nicht begeistert, als ich ohne dich-“
„Moment! Warte!“, unterbrach Gibbli ihn. „Er wollte dass du mich ... warum wollte er, dass ich ... die ... Mara ... auch verlasse ... Oh verdammt“, murmelte sie. Plötzlich ergab alles einen Sinn. Beinahe wäre der Tee über ihre Finger geschwappt. Sie knallte die Tasse lauter als beabsichtigt auf den Tisch.
„Was ist?“, fragte Bo und blickte auf. Auch Steven war verstummt.
„Sky“, flüsterte Gibbli.
„Ja ...“, Abyss tat so, als würde er nachdenken. „Dieser Name kommt mir bekannt vor. So ein mächtiger Kerl, mit Piratenbart und schwarzen Dreads, der andere gern rumkommandiert?“
„Aye. Und vergiss seine gruseligen Augen nicht, Mensch“, fügte Steven hinzu.
„Er versucht, sein Versprechen zu halten!“, rief Gibbli betroffen. „Er hat sich entschieden.“
„Wofür entschieden?“ Bo beugte sich neugierig nach vorne.
„Für uns! Er hat das geplant. Er hat uns weggeschickt, um uns zu retten. Uns und den Rest der Welt. Sky hat uns nicht rausgeworfen, er hat uns weggeschickt, um ... um ...“ Gibbli stockte der Atem.
„... sich selbst zu opfern.“ Abyss stieß entgeistert die Luft aus. „Na toll, schon wieder.“
Bo hielt entsetzt eine Hand vor ihren Mund.
„Die Beben haben aber nicht aufgehört“, sagte Steven. „Wir hätten es vorhin fast nicht geschafft, anzudocken, ihr erinnert euch, vergessliche Menschen? Und das nicht nur, weil ein gewisser gigantischer Kerl hier nicht im Stande dazu ist, die Mechanismen der Schleusen ordentlich zu bedienen.“
„Ja, weil Skys Plan nicht funktioniert“, erwiderte Gibbli, bevor Abyss reagieren konnte. „Er braucht mehrere lebende Energien an Bord, um den Schild aufrecht zu halten und die Maschine der Mogbasis zusammen mit der Mara darin einzuschließen. Mindestens drei. Er wählte natürlich Jack. Ich nehme an, weil er denkt, als Führer sei er dazu verpflichtet. Sie beide sind das. Und“, Gibbli wandte sich Steven zu, „dich. Er wählte dich.“ Das ergab Sinn. Der Oceaner hatte die Maschine gebaut, er war dafür verantwortlich, dass sie überhaupt existierte. Also wäre sein Opfer nur fair für Sky.
„Oh“, sagte Steven. Dann entspannte er sich wieder. „Nein.“ Er lachte und schüttelte wissend den Kopf. „Das kann nicht sein.“
„Wieso nicht?“, fragte Bo.
„Du weißt, wie der Schild funktioniert, Steven!“, sagte Gibbli, bevor er antworten konnte. „Warum bist du da nicht eher drauf gekommen?“
„Na weil das unmöglich ist“, gab der Oceaner zurück, als wäre es selbstverständlich.
„Warum?“, fragte Gibbli.
Steven blickte sie verständnislos an. „Das ist doch wohl klar, Mädchen. Sky würde mich nicht opfern, oh nein, niemals. Er mag mich. Jeder mag mich. Das würde ja sonst bedeuten, er hätte mich gar nicht viel lieber als euch. Wie unsinnig.“
Abyss schnaubte und fuhr sich mit den Händen über das Gesicht. Dann sagte er grimmig: „Niemand von uns wird überleben. Weder wir, noch Sky, noch die Menschen dort draußen. Das bedeutet ... ich will’s nicht aussprechen.“ Er presste seine Lippen zusammen und seine Miene verriet, wie sehr ihn der Gedanke quälte.
„Wir müssen sofort zurück auf die Mara“, vollendete Gibbli den Satz. Nur dann gab es eine Wahl. Nur dann gaben sie Sky die Möglichkeit, zu entscheiden. Nur dann würden die Menschen dort draußen eine Chance haben, zu überleben.

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