Kapitel 23: Abyss verliert die Kontrolle (Bis in die tiefsten Abgründe)

Fassungslos ballte Gibbli die Hände zu Fäusten. Sie konnte nicht aufhören, seine Leiche anzustarren.
„Steven mag das nicht“, flüsterte der Oceaner und richtete sich auf. Seine klare Stimme wurde lauter und überschlug sich dabei fast. „Steven mag das nicht, überhaupt nicht! MAG DAS NICHT!“ Er hatte sich von Sky abgewandt und starrte stattdessen auf Jack, der sich langsam zu regen begann.
„Okay ... Okay. Wir müssen hier weg“, murmelte Abyss wieder. „Auf die Mara. Bevor die Maschine endgültig auslöst. Wir sollten dann nicht hier sein.“
Alles kam Gibbli so unwirklich vor.
„Kommt mit. Gibbli, Bo“, versuchte Abyss, sie zum Gehen zu bewegen. Doch gleichzeitig machte er selbst keine Anstalten, sich zu rühren.
Und Gibbli starrte noch immer Sky an, den Steven vor ihren Füßen so unsanft abgelegt hatte. Langsam hob sie den Kopf. Bo stand ihr gegenüber, auf der anderen Seite der Leiche. Gibbli blickte sie an. Bo blickte zurück, mit ihren leuchtend orangen Augen. Minuten schienen zu vergehen, doch Gibbli wusste, dass es nur Sekunden waren.
„Was treibt ihr? Raus hier!“ Er hörte sich nicht an, als würde er gehen wollen. Abyss drehte sich von Sky weg und stützte sich an einer Wand ab. „Wir sollten weg. Wir sollten ... wir sollten ...“
Gibbli ahnte, was Bo dachte. Und sie dachte dasselbe.
„Ich muss das tun“, flüsterte Bo.
„Das darfst du nicht“, warnte Gibbli sie leise.
„Er ist tot, er kann’s mir nicht mehr verbieten.“
Gibbli starrte auf die bleiche Haut des Kapitäns. Im blaugrünen Licht der Basis wirkte sie wie Wachs. Noch während sie überlegte, spürte sie, wie Bo bereits anfing, ihre Energie freizugeben. Das Marahang begann stärker zu leuchten. Immer schneller drehte sich das Gerät. Gibbli wusste, dass das nicht gut ausgehen würde. Wenn die Hybridenfrau ihr Vorhaben vollendete, wäre sie tot. Das war so falsch! Verzweifelt betrachtete sie Bo, wollte sie gleichzeitig abhalten und unterstützen.
„Verdammte Scheiße!“, knurrte Abyss irgendwo, scheinbar weit weg.
Dann kam Gibbli eine Idee. Sie war doch mit Bo über das Marahang verbunden. Es konnte also Energie aus ihr beziehen. Bo würde nicht sterben, sie würden ihre Lebenskraft teilen!
„So was sagt ein Kapitän nicht, oh, nein, nein, nein!“, hallte Stevens helle Stimme in Gibblis Ohren wieder, während sie versuchte, sich zu konzentrieren. „Was? Energie ... diese Energie, nein! Mädchen! Nicht! Das ist nicht ... nein! Hört auf! Nicht! NEIN!“
Wie ein Echo bohrte sich sein letztes Wort durch ihren Kopf. Plötzlich sah sie alles doppelt. Gibbli schloss die Augen. Es musste funktionieren! Und dann spürte sie es. Ja! Es fühlte sich an, als würde einem die Luft aus der Lunge gezogen werden, mehr Luft, als darin überhaupt Platz hatte. Ein Stück ihrer selbst, lebendige Energie. Schwindel überkam sie. Etwas zog immer und immer weiter. Und dann hörte es plötzlich auf. Gibbli riss die Augen auf und kippte nach vorne. Bevor sie auf den Kapitän fallen konnte, hielten zwei große Hände sie fest, so sackte nur ihr Kopf nach unten.
Ein paar Sekunden verstrichen.
Das hier war nicht der Tod. Sie lebte. Sie spürte, wie neue Energie in ihre Adern strömte, als würde ihr Körper den Verlust bereits ausgleichen. Aus den Augenwinkeln bemerkte sie Jack, der düster dreinblickend an eine Wand gelehnt saß und noch nicht ganz bei Sinnen zu ihnen herüber starrte. Und da war Bo, die am Boden kniete, auf der anderen Seite Skys.
Neben der blauhäutigen Frau hockte Steven, der sie gepackt hielt und leise auf sie einsprach. Einer seiner Arme umschlang ihren Oberkörper, der andere stützte ihren blassen Kopf. Bo lebte. Bo atmete!
Ihr Blick glitt weiter am Boden entlang. Da lag er. Noch immer.
„Gibbli“, hörte sie Abyss‘ Stimme irgendwo ganz nah.
Hatte es funktioniert? Erst jetzt merkte sie, dass sie gar nicht mehr standen. Langsam kehrte ihr Tastsinn zurück. Gibbli spürte Abyss‘ warmen Körper an ihrem Rücken. Sein Atem strich über die Seite ihrer Stirn.
„Gibbli“, wiederholte er flüsternd, direkt neben ihrem Kopf. „Siehst du das?“
Sie sah es. Das Hemd unter der Uniform spannte sich an. Nur ganz leicht. Die Brust darunter hob sich. Langsam. Und sank wieder nach unten. Kaum sichtbar.
Er atmete.
Ihre Mundwinkel zogen sich nach oben.
Und dann, ganz langsam, bewegten sich seine Lippen. „Du hättest sie ... aufhalten müssen, Abyss“, durchdrang die raue Stimme die Basis der Mog.
Stevens Gemurmel verstummte. „Unmöglich“, flüsterte er fasziniert.
Skys schwarze Implantate starrten offen an die Decke. „Sie wären fast gestorben. Beide. Meinetwegen.“
„Du bist ja auch der Kapitän“, sagte Abyss leise. Er drückte Gibbli noch fester an sich.
„Wenigstens das. Es war ... etwas unheimlich.“
Unheimlich? Gibbli kroch ein Schauer über den Rücken. Hatte Sky wirklich gesehen, was danach kam? Hatte der Kapitän tatsächlich einen Einblick erhascht, wie es weiter ging? Das war unglaublich!
„Tot sein ist also unheimlich?“, sprach Abyss die Frage aus, die Gibbli im Kopf umher schwirrte. Sie fühlte sich noch viel zu schwach, um ihre Stimme zu benutzen.
„Nein“, antwortete Sky und schloss erschöpft die Augen. „Dass du Kapitän sein sollst. Mir dich in Uniform vorzustellen war ... in der Tat ... etwas gruselig.“
Gibbli lachte auf.
„Hm, Idiot“, murmelte Abyss.

 

„Wir kehren zurück auf die Mara“, befahl Sky entschlossen, nachdem er sich einige Minuten später aufgerichtet hatte. Dann wandte er sich an Bo. „Du nicht.“
„Was?“, fragte die blasshäutige Frau verwirrt. Sie wirkte noch immer etwas mitgenommen.
Steven, der hinter ihr stand, runzelte die Stirn.
„Du hast mich verstanden, Bo.“
„Sky, ich verstehe nicht, was meinst du damit?“, fragte sie.
„Du wirst nicht bei uns bleiben. Ich werfe dich nicht raus, aber du wirst die Mara in den nächsten Tagen nicht betreten.“
„Bist du irre?“, fuhr Abyss ihn an.
„Nein, aber du bist es, du hättest sie aufhalten sollen!“
„Sie hat dir dein verficktes Leben gerettet!“
„Ich habe sie nicht darum gebeten.“
Stille breitete sich in der Basis aus. Alle starrten ihn fassungslos an.
„Sie hätte sterben können und Gibbli mit ihr. Dass sie ihr eigenes Leben riskiert, kann ich nicht verhindern, aber das von jemand anderem ...“
„Das war meine Entscheidung“, warf Gibbli ein.
„Halt den Mund!“, fuhr der Kapitän sie an.
„Sky, bist du’s wirklich? Das kannst du nicht tun, Mann!“
„Abyss, wenn Gibbli meinetwegen gestorben wäre, hättest du mir das nie verziehen.“
„Ich ... sie ... sie ist es nicht!“
Der Kapitän starrte ihn eine Weile an. „Ganz genau. Du kannst sie übrigens jetzt loslassen, sie ist okay.“ Mit düsterem Blick betrachtete er Abyss‘ Hände, die noch immer Gibbli von hinten umklammerten. „Und Bo verschwindet.“

 

Gibbli konnte nicht glauben, dass Bo tatsächlich fort war. Gedankenversunken blickte sie an den Pflanzen der Galerie vorbei nach draußen aus dem großen Frontfenster, über Sky hinweg. Dort unten in der Zentrale saß er, der Mann, der mit seiner kranken Einstellung zur Gerechtigkeit alle zur Verzweiflung trieb. Der Mann, von dem Gibbli gedacht hatte, dass er nie log und jetzt hatte er Bo fortgeschickt. Einfach so. Nicht rausgeworfen, wie er behauptete, aber was machte das denn für einen Unterschied? Der Kapitän ließ die Steuerung los. Jack saß neben ihm und sprach leise auf ihn ein. Sky hatte das U-Boot in einiger Entfernung von der Mog Basis in eine Senke am Meeresgrund manövriert. Um sie herum brodelte das heiße Wasser und tausende von winzigen Luftblasen strömten aus dem schlammigen Boden nach oben. Es wäre ein wunderschöner Anblick gewesen. Doch Gibbli nahm das Naturschauspiel kaum wahr. Für einen Moment dachte sie an Steven. Er saß im hinteren Teil der Zentrale auf dem runden Tisch. Die Kugel schwebte über seinem Kopf und der Oceaner schien darauf irgendetwas zu suchen. Gibbli hatte einige Zeit zugesehen, wie seine Berechnungen kreuz und quer durch den Nebel im Inneren flogen, gefolgt von bildhaften Szenarien, welche das Ergebnis darstellen sollten. Er versuchte, den Schild irgendwie zu modulieren, um daraus etwas zu bauen, was seine Maschine aufhalten könnte. Doch bisher funktionierte nichts davon. Außerdem war es sowieso viel zu spät. Ihnen blieb noch ein Tag, im besten Fall zwei. Offensichtlich hatte Skys Eingriff zwar alles etwas durcheinandergebracht, die Maschine jedoch nicht gestoppt. Gibbli drehte sich um und trat an den Pflanzen vorbei durch einen Durchgang. Abyss hatte sich schon wieder mit dem Kapitän gestritten. Ob es dabei um Bo ging oder um sie, hatte Gibbli nicht richtig mitbekommen. Aber sie wusste, dass er in seiner alten Kapsel hockte. Er hatte sich darin verkrochen, seit sie zurück auf der Mara waren und weigerte sich, herauszukommen. Schon zwei Mal hatte er Gibbli davon gejagt. Und noch immer schien er niemanden sehen zu wollen.
„Abyss?“, fragte sie vorsichtig und betrat die Kapsel.
„Lass mich allein“, knurrte er.
Das würde sie nicht tun. Es reichte! Er konnte das doch nicht alles so hinnehmen, er gab nie auf! Das passte nicht zu ihm. „Abyss, denkst du, Sky wird es einfach so passieren lassen?“
Er warf ihr einen düsteren Blick zu. „Frag ihn doch.“ Es schien ihn überhaupt nicht zu interessieren, dass entweder sie oder die Welt dort draußen bald nicht mehr existieren würden.
Gibbli nahm einen tiefen Atemzug. Abyss wusste genau, dass sie sich das nicht traute. Nicht, wenn Jack dabei stand. Und er stand immer dabei. Dazu kam noch, dass Sky sich richtig kalt verhielt, seit er von den Toten auferstanden war. Gibbli konnte es ihm nicht übel nehmen, in Anbetracht dessen, dass der Landmenschenführer ständig versuchte, seine Aufmerksamkeit zu erregen und ihm einzureden, dass er dazu verpflichtet wäre die Menschen zu retten, indem er seine Crew opferte. Dennoch, Skys Vorgehen, was Bo betraf, verstand sie nicht. Und Abyss offensichtlich auch nicht. Wahrscheinlich war es gut, dass er sich hier verkroch, so würde er wenigstens nicht mit Sky und Jack aneinandergeraten.
Abyss zog sich hoch und trat auf sie zu. Sie schluckte und lehnte sich an eine Wand in der kaputten Tauchkapsel.
„Du solltest jetzt wirklich besser gehen. Bitte“, sagte er leise und einer seiner Finger zeigte bedrohlich auf den Eingang.
Sie wollte sich nicht schon wieder verjagen lassen. „Abyss, wir könnten Bo suchen und versuchen Sky zu-“
„Es geht nicht um Bo“, unterbrach er sie.
„Dann sag mir doch wenigstens, was ich falsch gemacht habe!“
Er ließ sich vor ihr auf seine Knie fallen. Sein Gesicht war jetzt näher an dem ihren, doch es kam Gibbli nicht mehr so vor, als würde er von oben herab mit ihr sprechen. „Du hast nichts falsch gemacht“, gab Abyss zurück. Er legte eine Hand auf ihre Schulter.
„Aber warum soll ich dann nicht bei dir sein? Warum bist du so abweisend?“, fragte sie und versuchte, die aufsteigende Angst seiner Berührung zu vertreiben.
„Geh einfach“, flüsterte er. Gleichzeitig spürte sie, wie sein Griff an ihrer Schulter fester wurde.
Gibbli schüttelte den Kopf. „Nein.“
Abyss schnaufte betrübt aus. „Du musst, Gibbli.“ Sie spürte seinen warmen Atem im Gesicht, als er noch näher auf sie zu kam. Er wirkte erschöpft.
„Warum?“, fragte sie wieder. So fest, wie seine Finger ihre Schulter gegen die Wand gedrückt hielt, hätte sie gar nicht mehr gehen können.
Abyss hob seinen anderen Arm und fuhr mit der Hand vorsichtig über ihre Schläfen. „Ich muss weg. Verstehst du?“
Sie schüttelte den Kopf.
„Jack ist ...“ Er sah kurz weg und wandte sich ihr dann wieder zu. „Ich kann das hier nicht.“
„Okay. Wo gehen wir hin?“
„Nicht wir.“
„Nein. Du wirst nicht schon wieder ... du gehst nicht ohne mich!“
Ohne Vorwarnung überbrückte er den Abstand zwischen ihnen. Bevor sie weiter sprechen konnte, berührten seine Lippen die ihren. Gibbli erstarrte. Sie hätte sich nicht bewegen können, selbst wenn er nicht ihren Kopf festgehalten hätte. Ihr ganzer Körper schien plötzlich zu brennen.
Geschockt starrte sie ihn an, als er plötzlich ein paar Zentimeter zurückwich. Schnell wandte er sich von ihr ab und fuhr mit der Hand durch seine hellen Haare.
„Tut mir leid“, flüsterte Abyss.
Gibbli war nicht in der Lage etwas zu erwidern. Ihre Finger verkrampften sich.
Abyss drehte sich wieder um. „Nein, ich lüge. Es tut mir nicht leid“, sagte er, während er sich erneut auf den Knien niederließ, ihre Schultern packte und sie behutsam schüttelte. „Aber verstehst du jetzt? Ich muss fort!“
Panik stieg in ihr hoch. Sie wollte wieder nach dem Warum fragen. Wieso tat er das? Er wollte fort? Mit aufgerissenen Augen starrte sie ihn einfach nur an. Abyss schüttelte leicht den Kopf, als würde er ihre Gedanken lesen.
„Ich weiß doch, dass es falsch ist, Gibbli.“
Was tat er mit ihr? Für einen Moment tauchte Djegos braun gebranntes Gesicht in ihren Gedanken auf und Gibbli drückte seinen dummen Lockenkopf beiseite. Abyss durfte hier nicht raus!
„Aber ich bin nicht Sky. Ich bin nicht jemand, der das Richtige tut. Ich mache, was ich will und ich bekomme, was ich will. Etwas anderes akzeptiere ich nicht, es geht nicht. Ich kämpfe darum, bis zum Tod.“
Noch immer fehlten ihr die Worte. Zitternd presste sie sich an die Wand der Kapsel, während seine Finger sich weiter in ihre Schultern gruben.
„Ich würde dich jagen Gibbli, das weißt du.“
Sie wusste es. Ihre Gedanken rasten wie glühende Lava durch sie hindurch. Halt, was genau wusste sie? Seine grauen Augen ließen sie alles vergessen. Welche Gedanken überhaupt? Sie konnte keine mehr klar erfassen. Abyss‘ Finger drückten sich auf ihre Haut. Es brannte. Er war zu nah. Viel zu nah. Aber es war okay, oder? Es war doch ... er. Er durfte nicht fort!
„Fürchtest du dich vor mir?“, fragte er ruhig.
Gleich würde sie schmelzen. Sie versuchte, den Kopf zu schütteln, doch nicht einmal das gelang ihr richtig. Er konnte sie doch nicht hierlassen!
„Das solltest du“, sagte er leise. „Denn ich bin nicht in der Lage, dir zu versprechen, dass ich das nie wieder mache. Ich tue es. Immer wieder. Darum solltest du dich von mir fernhalten.“
Nervös schluckte sie.
„Hast du das verstanden?“
Sie öffnete den Mund und schloss ihn wieder.
„Gibbli?“
Er war doch ihr Bruder! Lautlos formten ihre Lippen das letzte Wort.
„Ja“, sagte Abyss leise. „Ja ... ich bin ... Nein, Gibbli, das bin ich nicht und du weißt, das war ich nie.“
„Aber du sagtest ... du ...“ Ihre Stimme klang kaum hörbar.
„Ja. Ja verdammt! Ich sage, was andere hören wollen, um sie zu manipulieren, okay? Das bedeutet nicht, dass ich dir schaden wollte. Ich wollte dein Vertrauen. Darum sagte ich das. Ich will nur, dass es dir gut geht, dafür würde ich alles tun. Aber wenn ich weiter in deiner Nähe bin, dann wird‘s dir nicht mehr lange gut geh’n. Verstehst du das?“
Nein, das verstand sie nicht. „Abyss, lass mich nicht ... allein.“ Alle Kraft schien sie zu verlassen.
Mitfühlend schien er zu überlegen, aber Gibbli wusste, dass er seine Entscheidung nicht zurückziehen würde. So etwas tat er nicht, nicht er. Einmal entschlossen, bedeutete bei ihm wie in Stein gemeißelt.
„Hey, ich ... ich tu dir nicht weh. Das würde ich niemals. Aber jede Sekunde, in der ich dich sehe, fällt es mir schwerer, nicht über dich herzufallen. Und ich bin mir nicht sicher, wie lange ich es noch schaffe, mich zurückzuhalten. Nur ein kleiner Schubs. Wenn Jack wieder oder irgendjemand ... Nein Gibbli, das lasse ich nicht zu.“ Er hielt kurz inne. „Ich gehe jetzt, okay?“
Nein, das war nicht okay!
„Und ich werde nicht, ich kann nicht zurückkommen. Nie mehr.“
Gibbli fühlte, wie ihre Beine leicht wegsackten. Das hielt sie nicht aus. Nie mehr. Diese Worte fühlten sich an, als würde eines seiner Messer mitten durch sie hindurch fahren.
„Bitte, lauf mir nicht nach. Ich will, ich darf dich nie wieder seh’n! Verstehst du das?“
Warum stellte er ihr immer wieder diese Frage? Er durfte sie nicht verlassen! Wieder. Sie konnte sich nicht mehr halten.
„Hey.“ Abyss packte sie, hielt sie fest und sackte mit ihr zu Boden. „Ich muss das tun.“ Vorsichtig drückte er ihren Kopf an seine Brust, wo sie wie erstarrt durch ihren offenen Mund atmete. „Ich will das nicht, aber ich muss, okay? Ich muss“, flüsterte er immer wieder und strich über ihre Haare.

 

Eine raue Stimme drang in Gibblis Ohren: „Sag mir, was geschehen ist.“
Mit starren Liedern erkannte sie aus den Augenwinkeln, dass Sky vor ihnen hockte. Noch immer hatte sie ihren Kopf an Abyss‘ Brust vergraben, wo er sie fest umklammert hielt. Noch immer hörte sie sein Flüstern. „Ich kann das nicht tun. Ich hätte das nicht tun dürfen.“
Und Gibbli fühlte sich wie versteinert. Sie war sich sicher, wenn sie sich bewegte, dann würde sie zerbrechen und zu Staub zerfallen.
„Abyss?“, fragte der Kapitän besorgt.
„Es ist zu spät. Ich hätte das nicht-“ Abyss verstummte mitten im Satz. „Sky“, sagte er dann tonlos.
Für einige Sekunden war es still. Sky schien zu warten, doch es kam nichts mehr.
„Sky“, flüsterte Abyss schließlich wieder.
„Ja?“, fragte Sky ruhig.
Wieder schienen einige Sekunden zu verstreichen, dann hörte Gibbli Abyss‘ Stimme erneut: „Ich hab Mist gebaut.“
„Sag mir, was geschehen ist“, forderte der Kapitän ihn zum wiederholten Mal auf.
„Ich ... nichts. Noch nichts. Ich ... ich weiß es nicht. Ich weiß es nicht, Sky.“
Sky streckte vorsichtig eine Hand nach ihm aus. „Abyss, du erdrückst sie“, sagte er ruhig. „Wie wäre es, wenn du Gibbli jetzt loslässt?“
„Nein. Nein!“, rief Abyss sofort und Gibbli spürte, wie sein Griff fester wurde. „Ich will nicht.“ Und noch einmal flüsterte er: „Ich will nicht.“
„Ruhig. Schon gut.“ Sky fuhr sich mit beiden Händen über das Gesicht. „Dann ... dann rede wenigstens mit mir. Ihr ... sitzt hier bereits länger.“
Abyss nickte.
„Sag mir wie lange.“
„Eine Stunde. Zwei? Fünf? Keine Ahnung.“
„Okay. Gut. Und jetzt sagst du mir genau, was passiert ist.“
Abyss öffnete den Mund und schloss ihn wieder. Sky schien abzuwarten.
„Sky“, flüsterte Abyss nach einer Weile erneut.
„Ich bin hier“, gab der Kapitän leise zurück.
„Sky.“
„Ich bin hier, Abyss“, wiederholte er beruhigend.
„Ich wollte das nicht. Jack hat ... und sie wäre ... und du ...“, Abyss brach ab.
„Er ist ein Monster.“
Abyss schnaubte. „ICH bin das Monster! Wie kannst du damit einfach so ... Ich wollte nicht ... es ... ich ... ich hab die Kontrolle verloren.“
„Nein, hast du nicht.“
„Hab ich nicht“, wiederholte Abyss Skys Worte.
„Es hätte nie passieren dürfen. Aber ich kann es nicht rückgängig machen, Abyss.“
„Nein, kannst du nicht. Du hättest mich aufhalten müssen! Ich hätte das nie ... ich würd’s wieder tun, Sky. Das darf nicht getan werden. Es ist falsch. Warum lässt du ihn hier sein? Wie kannst du ... wie hältst du das aus?“ Der Tonfall, mit dem er sich immer weiter hineingesteigert hatte, sackte zu einem verzweifelten Flüstern ab. „Warum lässt du mich hier sein?“
„Dich trifft keine Schuld.“
„Wie oft willst du mir das noch einreden?“
„Bis du es glaubst. Das habe ich dir damals auf dem Planeten der Mog schon gesagt und immer wieder. Und du wirst nie etwas anderes von mir hören. Du hast das gut gemacht!“
„Nein! Das war nicht gut. Das war krank! Und jetzt auch noch das mit dem Jungen! Sie ist völlig ... nein, ich bin ... ich ... Ich hasse euch! Ist es das, was ihr Eliteheinis tut? Ist das normal für euch?“
„Abyss, du hast nach meinem Befehl gehandelt!“
„Weißt du, was sie mich gefragt hat?“, sagte Abyss leise. „Gibbli hat mich gefragt, ob sich Menschen weh tun, die zusammen sind.“
Der Kapitän fuhr sich mit den Händen durch die Haare.
„Tun sie das, Sky? Tun sie das?“
„Abyss, nein! Natürlich nicht!“, rief Sky eindringlich.
Für eine Weile herrschte Stille und Gibbli wünschte sich, Abyss würde wieder irgendetwas sagen, einfach nur, um seine Stimme zu hören, um zu wissen, dass er noch da war. Sie begriff gar nicht, über was sie eigentlich sprachen. Aber offensichtlich hatte es nichts mit ihr zu tun. Oder doch? Egal, es hatte sowieso keine Bedeutung. Dass er sie geküsst hatte, sickerte gar nicht richtig durch ihren Kopf. Sie war geschockt davon, dass er gehen wollte. Wieder. Erst nahm er sie mit, spielte ihr vor, er wäre ein Freund, ihr Bruder! Und jetzt ließ er sie zurück. Wieder.
„Ich hätte Jacks Befehle auch befolgt, wenn du nicht zugestimmt hättest“, sagte Abyss dumpf.
Für einen Moment schwieg der Kapitän. Dann sagte er leise: „Ich weiß.“
„Ich liebe sie.“
„Ich weiß.“
„Sky ... Sky?“
„Ich bin hier.“
„Ich wollte nicht ... dich ... Sky?“
„Ich bin hier, Abyss“, wiederholte er noch einmal die Worte.
„Es tut mir so leid“, flüsterte Abyss kaum hörbar.
Stille breitete sich in der alten Tauchkapsel aus.
„Abyss, bitte erzähle mir jetzt, was passiert ist“, verlangte der Kapitän nach einer Weile wieder. „Was hast du getan?“
„Gar nichts. Ich ... Sky, du musst ... ich werd’s wieder tun, verstehst du das? Du musst mich ...“, begann Abyss und brach ab. Sein Griff um Gibbli lockerte sich etwas.
„Wirst du nicht. Er hat keine Macht auf meinem Boot. Sag mir, was ich muss.“
„Du musst ... Ich ... Sky ... ich hab ...“
„Abyss“, flüsterte Sky, „hast du sie verletzt?“
Abyss schüttelte den Kopf. „Aber ich werde! Sky, sie ist doch meine kleine Schwester! Was, wenn er ... wenn Jack einen Weg findet oder ... wenn ich ... ich verliere die Kontrolle, Sky. Du musst ... Siehst du nicht? Es hat schon begonnen! Ich schaffe es nicht! Und sie wird es nicht verkraften, erst recht nicht nachdem dieser dämliche Junge ... Nein ... Ich hab dir gesagt ... Ich ... warum willst du überhaupt, dass ich ... Nein! Ich kann das nicht, ich würde ... Ich will ihr nicht ... Scheißdreck! Lass mich in Ruhe, Sky! Hier.“
Gibbli spürte, wie es plötzlich kälter wurde. Sie wollte es verhindern, zurück in die Wärme, doch sie schaffte nicht, sich zu bewegen.
Sky streckte überrascht die Hände aus. „Abyss was-“
Und dann lag sie in den Armen des Kapitäns. Sie hörte, wie Abyss aufstand.
„Warte! Wo gehst du hin?“, fragte Sky scharf.
Abyss blieb stehen. „Du musst ... Halt mich von ihr fern. Bitte“, sagte er, ohne sich umzudrehen.
„Abyss!“, rief Sky und drückte Gibbli an sich. „Bleib stehen! Abyss! Verflucht!“

 

Gibbli lehnte mit dem Kopf regungslos an einer der goldenen Leitungen und lauschte den Stimmen der Männer. Sie saß am Boden vor dem MARM. Ihre Augen folgten einem Schwarm junger Fische, ohne sie jedoch wirklich zu sehen. Wie winzige bernsteinorangefarbene Funken wuselten sie in dem Behälter herum und flitzen dann hinein in die Wand, ein durchsichtiges Rohr entlang, zu einem anderen Tank. Nicht weit davon standen drei Gestalten, mitten im Durchgang zur Zentrale.
„Warum hast du ihn weggeschickt? Du machst alles kaputt!“, rief Steven aufgebracht. „Du machst mein Mädchen kaputt!“
„Steven, hör auf.“
„Diese dumme Göre sollte ebenfalls nicht hier sein“, sagte Jack an Sky gewandt. Er stand etwas abseits an die Wand gelehnt.
„Wie hast du mein Mädchen genannt?“
„Gibbli kann nichts dafür“, gab der Kapitän zurück.
Jack, bedacht darauf, nicht direkt zu Steven zu sprechen, blickte den Kapitän wütend an. „Sky, sie ist an allem schuld! Sie und dieses ... etwas von ... was auch immer er ist.“
„Nein, nein, nein, so sprichst du nicht über uns! Wir sind Oca!“ Steven legte den Kopf schief und trat einen Schritt auf Jack zu.
„Steven“, Sky ruckte warnend mit dem Kopf. „Fang du nicht auch noch an!“
„Ach, jemand muss das aber machen, unseren blassen Freund hast du ja weggeschickt!“
„Ohne die beiden wäre das hier alles nie geschehen!“, sagte Jack wieder. „Sky, sie gehören nicht hierher! Er und diese kleine Göre sind daran schuld, wenn diese Welt auseinanderbricht!“
Steven spannte seine Finger so sehr an, dass die Sehnen noch stärker hervortraten. „Du gehst zu weit, oh ja!“
„Schweig Jack!“, rief der Kapitän und stellte sich zwischen Steven und Jack. „Und du“, er wandte sich dem Oceaner zu und legte die Hände auf seine nackte Brust, „halte dich zurück. Wir haben eine Abmachung. Niemand von euch berührt ihn.“
„Er hat uns beleidigt! Er hat mein Mädchen beleidigt!“
„Das sind nur Worte, Steven!“, sprach er eindringlich auf ihn ein.
Die Augen zu Schlitzen verzogen, starrte er an Sky vorbei auf Jack, der noch immer an der Wand lehnte und von Steven keine Notiz nahm. „Du kannst mich nicht aufhalten, oh nein. Das weißt du, Kapitän.“
„Das ist mir bewusst. Aber du wirst es nicht tun, weil ich es dir befehle. Du wolltest zur Crew gehören, du hast es dir ausgesucht, also tu, was ich sage. Beruhige dich. Wir brauchen ihn.“
Wofür? Wofür brauchten sie ihn eigentlich jetzt noch?, fragte sich Gibbli, die das Gespräch nur mäßig interessiert verfolgte. Sie brauchte Abyss. Niemanden sonst. Doch der war ja wieder einmal weg.
Steven schnaufte genervt aus, hatte sich aber anscheinend etwas beruhigt. Sky ließ langsam seine Arme sinken.
„Glückwunsch“, sagte Jack. „Wenigstens hast du ihn unter Kontrolle. Im Gegensatz zu diesem Muskelklops von Bleichgesicht, der nicht mal-“
Sky drehte sich um und schlug zu. Gibbli verzog keine Miene, hob jedoch jetzt etwas mehr interessiert den Kopf. Jack stöhnte auf und rutschte von der Wand ab.
„Ups“, sagte der Kapitän tonlos, ganz nebenbei, als wäre es ein Versehen gewesen.
Jack richtete sich zähnefletschend auf. Doch als er in Skys Waffe blickte, hielt er inne.
„Das ist nicht fair“, murmelte Steven. „Ich will auch!“ Gleichzeitig trat er belustigt einen Schritt zurück. Flüchtig sah er zu Gibbli herüber, die sich jetzt langsam hochzog und die drei ausdruckslos betrachtete.
Jack nickte kurz, ohne Skys Waffe zu beachten. Dann fing er unbeeindruckt an zu grinsen. „Dieser Abgrund von Kerl hat einen miesen Einfluss auf dich, mein Freund. Aber wenigstens bringt dich das dazu, mich zu berühren.“
Die Starre in Gibblis Kopf löste sich ein wenig, als Sky auf ihn zustürzte. Noch immer mit dem Strahler in einer Hand packte er Jack und drückte ihn gegen die Wand.
„Noch ein Wort über Abyss und ich werde dich so durchlöchern, dass nichts mehr von dir übrig bleibt!“ Der Kapitän hielt inne, um seinem Befehl Nachdruck zu verleihen. „Du hältst dich von meiner Crew fern, auch in deinen Gedanken!“ Er schubste Jack beiseite, wandte sich von ihm ab und hielt sich erschöpft am Rahmen des Durchgangs fest.
„War das der Grund, Sky? Warum du ihn nicht aufgehalten hast? Um die beiden Menschlein voneinander fernzuhalten?“
„Du hast keine Ahnung!“, fuhr der Kapitän Steven an. „Verschwindet. Beide! Lasst mich ... haut ab, ich will meine Ruhe!“ Er ließ den Kopf hängen und taumelte einen Schritt nach vorne. „Wenigstens ein paar Minuten. Okay? Bitte. Geht, verflucht!“ Dann verschwand er in der Zentrale.
Düster starrte Gibbli ihm nach. Plötzlich verspürte sie einen Ruck und eine gefährliche Absicht ergriff von ihr Besitz. „Warte!“, rief sie.
Das war ihre Chance, Sky allein zu sprechen. Er war in einer verdammt miesen Laune und wahrscheinlich würde er sie sowieso nur böse anknurren, aber sie musste ihn zur Rede stellen. Jetzt oder nie! Wütend rannte sie dem Kapitän hinterher, vorbei an dem zufrieden dreinblickenden Jack und an Steven, der sie verdutzt musterte.

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