Kapitel 20: Ausgleich (Bis in die tiefsten Abgründe)

Müde lag Gibbli in ihrer Hängematte im Maschinenraum. Nox war mit seiner Tochter fortgeschwommen. Sky hatte ihm noch eine Botschaft für Dixland mitgegeben und ihm die Kennung ihres U-Bootes genannt, für den Fall, dass er erwischt werden sollte. Bo hatte sich oben bei den Pflanzen ins angrenzende Labor zurückgezogen. Dort lag noch immer der leblose Körper ihrer Schwester in einer der Kühlkammern. Obwohl Gibbli ständig die Augen zufielen, gelang es ihr nicht, einzuschlafen. Eigentlich wollte sie das auch gar nicht. Sie hatte Angst, Djego in ihren Träumen zu begegnen. Und mit Erschrecken kam ihr ins Bewusstsein, dass es da noch etwas anderes gab, was sie wach hielt: Jemand, der nicht weit von ihrer Hängematte lag, am Boden, auf einer dünnen Unterlage.
Und natürlich war ihm das aufgefallen. „Was ist los?“, hörte sie Abyss nach einer Weile fragen.
Gibbli zögerte. „Du bist kein spontaner Mensch.“
„Nein. Versuchst du dich jetzt im Menschen lesen? Verschwende keine Zeit damit, du bist mies darin. Frag mich einfach, was du wissen möchtest.“
„Warum willst du, dass ich es bin? Du sagst immer, ich soll leben, ich soll mir nicht zu viele Gedanken machen. Ich soll sein wie ... wie Steven es ist.“
„Vielleicht, weil ich nicht möchte, dass du wirst wie ich. Kalt. Berechnend.“
Nachdenklich starrte Gibbli auf die schwach glühenden Sonnenstücke über ihr. Im Gefängnis auf der Akademie hatte er gesagt, er plante nicht voraus und dachte erst darüber nach, wie man ausbrechen konnte, wenn es so weit war. „Du hast mich angelogen, oder? Du hättest mich damals nicht gebraucht, um die Zelle zu öffnen.“
„Natürlich nicht. Ich war gerade dabei zu fliehen, als sie dich in meine Zelle geworfen haben“, sagte er leise. „Ich hatte alles geplant, wie ich entkommen würde. Einer der Soldaten übergab mir freiwillig seine Schlüsselkarte, kurz bevor er tragischerweise in die Colbspalte verfrachtet werden musste.“
Gibbli verdrehte die Augen. „Was für ein Zufall.“
„Kein Zufall. Aber, ich war’s nicht. Er hat sich selbst aufgegeben.“
„Warum?“
„Nun ja, dass er fälschlicherweise dachte, er würde an einer unheilbaren Krankheit leiden, ist wohl doch meine Schuld. Es war seine Pflicht, vor seinem Tod dafür zu sorgen, dass so eine Schlüsselkarte nicht in falscher Leute Hände geriet. Glücklicherweise war ein heldenhafter Elitesoldat zugegen, der diese Aufgabe für ihn übernahm. Ich sehe gut aus in Uniform, das darfst du mir glauben. Jedenfalls, in der Zelle dann, warst du plötzlich da. Ungeplant. Und ich musste unbedingt rausfinden, warum sie dich so behandelten und was du angestellt hast.“
„Also hast du mit mir gespielt.“ Das war es, was sie wach hielt. Woher sollte sie wissen, dass er es nicht wieder tat? Und vor allem, dass er nicht war wie Djego? Das beabsichtigte, was Djego ihr angetan hatte?
„Ja, das hab ich. Ich war nett zu dir. Ich bedrohte dich. Ich probierte aus, wie du auf verschiedene Situationen und Verhaltensweisen von mir reagierst.“
Genau das war es. Ein Spiel. Kein offensichtliches, wie Steven es spielte. Sondern eines mit verdeckten Karten. Ein Spiel, in dem er die Maske trug hinter einer Maske, hinter einer weiteren.
„War die Geschichte mit deinen Eltern auch gelogen?“, fragte Gibbli und wandte sich ihm zu. Hatte er die Wahrheit gesagt, als er ihr erzählt hatte, dass er ihren Tod hilflos mitansehen musste? „Als du in dieser Meeresgondel stecktest, unaufhaltsam von ihnen davon gefahren bist und nichts mehr tun konntest?“
Abyss lag auf dem Rücken und betrachtete sie berechnend. „Ich hatte nicht geplant, dir das zu erzählen. Nein, das war nicht gelogen“, sagte er nach einer Weile.
Traurig blickte sie zu ihm hinab. „Ich hab es in den Geschichtsaufzeichnungen nachgeschlagen.“
Er schloss die Augen.
„Der Vulkanausbruch war vor mehr als dreißig Jahren, Abyss.“ Also entweder hatte er sie gerade wieder angelogen, oder er hatte gelogen, was sein Alter betraf.
„Na schön. Es war nicht der Vulkan, der damals in die Luft flog. Der war vor meiner Geburt. Es ... nun, es waren ein paar Gebäude. Weißt du, damals war ich noch nicht besonders gut im Bomben basteln. Hey, ich war vier Jahre alt. Es starben Leute, Gibbli. Viele Leute. Meinetwegen. Du weißt so gut wie ich, was das bedeutet. Dass ich noch ein Kind war, spielte keine Rolle für die Elite. Aber der Rest ist wahr. Meine Eltern wollten mit mir unter das Meer fliehen. Die Soldaten erwischten uns kurz davor. Nun, mich nicht. Aber meine Eltern.“
Sie nickte. Das war jetzt also seine neue Geschichte. Sie hörte sich fast plausibel an, passte zu ihm. Aber hatte er im Gefängnis damals nicht behauptet, er wäre fünf Jahre alt gewesen? Was machten die Elitesoldaten in einer Küstenstadt, an Land? Warum wollten seine Eltern ins Wasser fliehen, obwohl es bei den Landmenschen über dem Meer nicht so streng ablief wie bei den Soldaten hier unten? Das passte alles nicht zusammen. Die Geschichte war also mit Sicherheit wieder erfunden, wenigstens ein Teil davon. „Wie soll ich dir je irgendetwas glauben, wenn ich nicht weiß, wann du mich anlügst und wann nicht?“
„Das kannst du nicht“, gab er zurück. „Es spielt auch keine Rolle. Ich beschütze dich Gibbli, das ist, was zählt. Vertrau mir.“
Vor Djego jedenfalls hatte er sie nicht beschützt. Er musste ihren ablehnenden Gesichtsausdruck bemerkt haben, denn jetzt blickte er sie eindringlich an.
„Okay. Ganz ehrlich? Bei unserer ersten Begegnung war ich kurz davor, dir die Kehle durchzuschneiden. Mit demselben Messer, das jetzt in deinem Stiefel steckt. Ich habe dich damit bedroht, du erinnerst dich? Du warst nur eine kleine Verzögerung zu meinem ursprünglichen Plan. Ich nahm mir vor, sobald ich herausgefunden hatte, was du in dieser Zelle treibst, würde ich dich umbringen. Du wusstest zu viel. Du hättest mich da drin gar nicht sehen sollen. Ich musste dir außerdem zu viel preisgeben, um es herauszufinden.“
Gibbli schluckte. „Aber das hast du nicht, du hast mich nicht umgebracht.“
„Nein.“ Seine Stimme klang verträumt, als er weitersprach. „Denn dann passierte was, womit ich noch weniger gerechnet hatte. Nur ein kurzes Blinzeln und mir wär’s nicht aufgefallen. In diesem einen, Augenblick wurde mir klar, dass ich die Zelle nicht ohne dich verlassen würde. Ich hätte die ganze Akademie in die Luft gejagt, um dich mitzunehmen. Niemals könnte ich mehr ohne den Menschen sein, der es schafft, mich so zu beeinflussen, der es schafft, mit nur einem winzigen Lächeln, meine ganzen Pläne über den Haufen zu werfen.“
„Aber du kannst nicht ohne deine Pläne sein. Also hast du einen neuen entwickelt, um mich für dich zu gewinnen. Einen, der mich miteinschließt.“
„Hab ich dich denn gewonnen?“
Gibbli schmunzelte über die direkte Frage.
„Das ist es. Genau für dieses Lächeln würde ich jedes Gesetz brechen.“ Abyss Mundwinkel zogen sich nach oben, dann sagte er ernst: „Aber ich will nicht, dass du tust, was ich begehre. Ich möchte keinen Kuss von dir, weil ich es verlange oder dich dazu zwinge. Ich brauch keinen. Ich will nicht bestimmen, dass du mir gehörst. Ich gehöre dir längst.“
Gibbli spürte, wie ihr wieder die Augen zufielen. Abyss gehören, klang dennoch gut. Konnte sie das? Der Kuss, den Djego ihr geraubt hatte, kam ihr in denn Sinn.
„Gibbli?“, fragte er nach einer Weile. „Was ist los?“
„Nichts“, flüsterte sie.
Für ein paar Sekunden war es still. „Ich hasse es, wenn du mich anlügst und ich es merke“, sagte er dann traurig.
Sie antwortete ihm nicht und drehte sich von ihm weg. Er wusste nichts von Djego und sie wollte nicht darüber reden, niemals wieder an dieses Monster denken.
„Du zerdenkst dich wieder, Gibbli. Da ist was und ich weiß nicht, was es ist. Seit ich zurück bin, bist du anders. Du zuckst wieder zusammen, wenn ich dich berühre. Du siehst mich an, als ...“ Abyss zögerte, „... als hättest du ... Angst vor mir.“
Skys Stimme drang durch ihren Kopf. Du wirst sie verletzen, hatte er zu ihm gesagt. Der Kapitän hatte das sogar ihr gegenüber erwähnt. Würde Abyss ihr wirklich weh tun?
„Bist du noch wach?“, fragte er leise.
Langsam drangen seine Worte in ihr Bewusstsein. War sie noch wach? Müde fixierte Gibbli eines der abgedunkelten Sonnenstücke und ließ es ganz erlöschen. „Erinnerst du dich daran, als ich zum ersten Mal diese Kugel da oben berührt habe?“, dachte sie. Oder dachte sie nur, dass sie es dachte, flüsterte sie es?
„Ich erinnere mich“, hörte sie Abyss‘ Stimme wieder. „Das war ... nicht schön.“
Nicht schön, war stark untertrieben. Rod hatte Mara vergewaltigt. „Nicht schön“, wiederholte Gibbli. Dann nickte sie weg.

 

Sie starrte in die türkisfarbenen Augen. Seine gebräunten Finger hielten sie fest an die Wand gepresst. Gibbli wimmerte. Das durfte er nicht! Seine Locken berührten ihr Gesicht! Warum war sie plötzlich so schwach? Mit aller Kraft versuchte sie, sich loszureißen. Ein dumpfer Schlag schickte eine Welle aus Schmerz durch sie hindurch. Verzweifelt wand sie sich in seinem Griff.
„Gibbli!“
Eklige Finger, weg! Weg! Sie schlug um sich, erwischte ihn leicht, doch dann hielt er sie wieder fest umklammert und rief erneut ihren Namen.
„Gibbli!“ Seine Stimme wandelte sich, wurde tiefer.
Wieder schlug sie zu. Dieses Mal traf Gibbli ihn.
„Hey, verdammt! Beruhig dich!“
Und die Farbe seiner Augen blich aus. Plötzlich starrte sie in ein blasses Gesicht. Benommen nahm sie wahr, dass sie am Boden lag. Heftig atmend, als wäre sie gesprintet, versuchte Gibbli, sich zu bewegen. Hatte er sie gefesselt? Nein. Er hielt sie nur fest, mit seinen langen, starken Fingern.
„Du hast geträumt“, sagte er leise. „Was hast du geträumt? Erzähl’s mir.“
Langsam beruhigte sie sich. Doch seine Aufforderung drang nicht bis in ihr Bewusstsein durch. Sie drückte ihren Kopf an seine Brust, während sie wieder einschlief. Abyss würde sie beschützen.

 

Zwei starke Arme hielten sie fest. Zwei nackte Arme? Nein, dieser Mann trug eine Uniform. Die beiden Arme steckten in den Ärmeln der Elite. Gibbli schrie und wollte sich befreien. Doch der Griff wurde fester. Das durfte er nicht! Verzweifelt biss sie in das blasse Fleisch hinein. Jemand keuchte auf.
„Hey! Gibbli!“
Die Finger ließen locker. Gut, dieser dumme Lockenkopf würde ihr nicht wieder weh tun! Hastig riss sie sich los und stolperte von ihm weg. Ihr Herz raste, dass es fast brach. Schneller! Ja! Sie hastete davon. Die niedrige Decke an dieser Stelle hielt ihn auf. Er musste sich ducken. Gibbli hingegen konnte rennen. Aber er verfolgte sie! Mist! Seit wann war Djego eigentlich so groß? Sie jagte durch die Gänge! Plötzlich stand er vor ihr! Verdammt! Wie hatte er das geschafft? Gibbli machte kehrt, doch er packte sie von hinten, hielt ihre Arme fest. Brüllend versuchte sie, sich zu befreien. Jetzt kam er auch noch von vorne und krallte sich in ihre Schultern! Wieso war er überall? Es gab doch nicht mehrere von ihm! Und seit wann besaßen diese Djegos eigentlich so viele Muskeln? Das war falsch! Das stimmte nicht! Panisch schrie sie und versuchte sich loszureißen.
„Schhhht, du hast nichts zu befürchten“, drang eine raue Stimme in ihr Ohr.
Sie hielt inne. Die gehörte ja gar nicht Djego. Gibbli riss die Augen auf und starrte in ein blasses Gesicht. Nicht türkis. Grau!
„Niemand verfolgt dich“, sagte die raue Stimme wieder, direkt hinter ihr.
Erschöpft zog sie die Luft ein. Metallische Luft, vermischt mit dem exotischen Duft von Pflanzen.
„Gibbli, sag mir, wo du bist.“ Sie sah ihn nicht, aber sie hörte ihn. Sein Griff hielt sie ruhig, sie konnte nicht weg. Sie wollte nicht mehr weg.
„Ich bin ...“, begann Gibbli flüsternd, weiterhin in die grauen Augen starrend, „zu Hause?“
„Das bist du. Du machst das hervorragend. Und jetzt sag mir, wer ich bin.“
„Der Kapitän“, antwortete sie leise. „Du bist mein Kapitän.“
„Richtig. Das hast du sehr gut erkannt. Ich bin Sky. Und wer befindet sich vor dir?“
Einen Moment schwieg sie, den Blick noch immer auf ihn gerichtet. Es waren nicht Djegos Finger an ihren Schultern. Djego fehlten keine Finger. Djego hatte gar keine Finger mehr. Es gab gar keinen Djego mehr. Schuldbewusst bemerkte Gibbli das Blut an seinem Arm. Noch immer konnte man leicht die Abdrücke ihrer Zähne erkennen. Ihn schien es nicht zu kümmern.
„Abyss.“ Und endlich drang die Wärme seiner großen Hände durch ihren Pullover in sie hinein. Unverrückbar, stark. „Mein Bruder steht vor mir.“
Nein, er kniete vor ihr. Der Kapitän ließ sie los und Gibbli sank in Abyss‘ Arme. Fest umschlungen glitt er mit ihr zu Boden, ihren Kopf gegen seine nackte Brust drückend. Gibbli schloss die Augen. Er roch noch immer nach diesem alten Holz. Sie saßen in der Ecke eines Lagers, drang es in Gibblis Bewusstsein, irgendwo in den Tiefen der Maschinenräume. Ihr Körper spannte sich an, als sie eine weitere Hand an ihrem Rücken spürte. Doch Gibbli öffnete ihre Augen nicht. Langsam beruhigte sie sich wieder.
Skys Stimme drang an ihr Ohr, schien jedoch von weit wegzukommen. „Ich sollte wieder zu Bo. In zwei Stunden tauchen wir nach oben.“
Sie spürte, wie Abyss nickte. Er wollte irgendetwas wissen und Sky verneinte. Noch einmal fragte er etwas.
„Nein“, sagte Sky leise und Gibbli hörte nicht mehr zu.
Mit geschlossenen Augen lauschte sie den Schlägen Abyss‘ Herzens. Dann verschwand die Hand an ihrem Rücken und das verebbende Geräusch von Kampfstiefeln verriet ihr, dass der Kapitän ging. Ein ungutes Gefühl kroch in ihr hoch, wie ein Wurm, der sich langsam um ihren Körper wickelte. Abyss hielt sie schweigend umschlungen, als wäre er nicht gewillt, sie jemals wieder gehen zu lassen. Erschrocken stellte Gibbli fest, dass es tatsächlich Angst war, die da auf ihr umher kroch und sich immer enger um sie zog. Und der Drang aufzustehen wurde stärker. Sie begann zu zittern. Was wenn sie ihm wieder weh tat?
„Abyss?“, fragte sie nach einer Weile leise. „Kannst du ... kannst du mich loslassen?“
Er tat es. Erleichtert rückte Gibbli von ihm fort und zog sich hoch. Er stand ebenfalls auf und blickte auf sie herab. Warum wirkte er so betrübt? Hatte sie etwas falsches gesagt? Hätte sie einfach sitzen bleiben sollen? Nein, er sah immer so aus, oder? Unsicher hob sie den Kopf.
„Was hast du?“ Seine grauen Augen schienen sie zu durchbohren. „Sky will es mir nicht verraten. Was ist es?“
Sie schwieg.
„Gibbli.“ Er schien zu überlegen, was er sagen sollte. „Ich fühle mich hilflos.“
Sie blickte ihn verständnislos an. Hatte Abyss das gerade ernsthaft zugegeben? Hilflos? Dieser riesige Kerl? Er war doch stark!
„Sag mir, was ich tun kann, Gibbli.“
Sie schüttelte kaum merklich den Kopf. Sie hatte es doch versucht. Es ergab keinen Sinn, es ihm zu sagen. „Du bist gegangen“, flüsterte sie.
„Ich bin gegangen? Wie kann ich dir helfen, wenn ich nicht weiß, worum es geht?“
„Du kannst nicht ... du ... Nein“, flüsterte sie.
„Nein?“, fragte er aufgebracht. „Nein“, wiederholte er und dieses Mal klang seine Stimme ruhig und resigniert. „Nein. Ich kann dieses Wort nicht ausstehen. Nein. Diese vier Buchstaben tun mehr weh, als wenn du einfach mein Messer in mein Herz rammen würdest. Nein“, wiederholte er mit Nachdruck und Gibbli wich vor ihm zurück. „Ich kann verflucht noch mal keine Gedanken lesen! Nein. Schön. Weißt du was, vergiss es.“ Er drehte sich genervt um, lehnte sich mit einer Hand an die gegenüberliegende Wand und fuhr sich mit der anderen über sein Gesicht.
Sie schluckte und blickte zu Boden. Niedergeschlagen atmete sie aus. Jetzt war er ihr wieder böse. Dabei war es doch nicht seine Schuld.
„Okay. Offensichtlich hab ich was falsch gemacht“, sagte Abyss leise.
Djego hatte alles falsch gemacht! Oder irrte sie sich? Djego hatte gesagt, sie waren zusammen. War es normal, das zu tun? Für Rod war es offensichtlich auch normal gewesen, Mara zu verletzen.
Abyss‘ Worte rissen sie aus ihren Gedanken: „Über was denkst du nach?“
Sie hob den Kopf. Er beobachtete Gibbli und seine Mundwinkel hoben sich zu einem traurigen Lächeln. Aber seine Augen wirkten warm und strahlten diese Zuversicht aus, wie sie es immer taten.
„Abyss? Warum tun sich Menschen weh, wenn sie zusammen sind?“, hörte sie sich plötzlich fragen.
Irritiert zog er seine Brauen zusammen. „Menschen tun sich nicht weh, wenn sie ...“ Er brach ab, als würde er gerade etwas begreifen. „Rod und Mara, darum hast du sie heut Nacht erwähnt.“ Mit einem Schlag wurde seine Miene düster. „Der Junge“, flüsterte Abyss und kam näher.
Gibbli wich vor ihm zurück und spürte eine Regalwand an ihrem Rücken. Sie bereute ihre Frage. Sie hatte sie gar nicht laut aussprechen wollen.
„Was hat er dir ...“ Ungläubig öffnete Abyss den Mund, dann schrie er: „WAS HAT ER GETAN?“
Sie antwortete nicht, presste sich stattdessen gegen die gestapelten Schubfächer hinter ihr, in der Hoffnung, sie würde im Regal versinken, so wie Steven durch Wände gehen konnte. Abyss packte ihre Schultern. Gibbli keuchte auf und zuckte zusammen. Sofort ließ er sie wieder los.
„Nein.“ Er drehte sich von ihr weg und fuhr sich über seine Haare. „Nein. Nein ... das gehörte nicht zum Plan, das ... ich wusste nicht ...“ Er stützte sich an einem Regal ab und ließ den Kopf hängen. „Das ist ... Und ich Idiot bin gegangen.“
„Das bist du“, sagte Gibbli leise. Langsam glitt sie nach unten.
Abyss tat es ihr gleich und setzte sich neben sie an die Regalwand. „Ich ging, als du mich am meisten gebraucht hättest“, sagte er ohne sie anzusehen. Er wirkte, als wäre etwas in ihm zerbrochen. Elend starrte er in die Luft.
Gibbli überkam das Verlangen, ihn aufmuntern zu müssen. „Du bist zurückgekommen.“ Sie war verwundert, wie fest ihre Stimme plötzlich klang. Doch dann spürte sie wieder diesen dummen Wurm. „Sind wir zusammen, Abyss?“
Sie drehte ihren Kopf und zwang sich, ihn anzusehen. Langsam wandte er sich ihr zu. Seinen Mund leicht geöffnet, blickte er sie betroffen an.
„Wirst du mir weh tun?“, flüsterte Gibbli fragend, kaum hörbar, als er nicht antwortete.
Er kam näher und hob eine Hand. Gibbli blickte zu Boden, wollte sich von ihm weg lehnen. Doch schon spürte sie seine Finger an ihrem Kinn.
„Schau mich an.“
Er hob ihren Kopf. Ihr Herz schlug so laut, dass er es sicher hören musste.
„Gut. Und jetzt mach die Augen zu.“
Sie öffnete den Mund, wollte seiner Anweisung widersprechen, doch dazu kam es nicht.
„Ich will diese Angst in ihnen nicht mehr seh’n.“
Und seine Stimme klang so eindringlich, dass sie es zögernd tat. Langsam glitten ihre Lieder nach unten. Sie sah nichts mehr. Unsicher versuchte Gibbli, das Zittern zu unterdrücken. Etwas warmes berührte ihre Wange. Dann spürte sie seine weichen Lippen. Er küsste sie auf die Stirn. Jetzt fühlte Gibbli seinen Atem an ihrem Ohr.
„Hat das weh getan?“
„Nein“, flüsterte sie.
Er drückte sie an sich und hielt sie fest.
„Tut das weh?“
„Nein“, erwiderte Gibbli leise.
„Du bist meine kleine Schwester. Ich könnte dich niemals mit Absicht verletzen. Aber du musst mit mir reden, okay? Und wenn ich ... wenn ich wieder mal zu blöd sein sollte, zu blind, dann schweig mich nicht an. Sag mir, dass du mich brauchst. Schrei mich an, meinetwegen schlag mir den Schädel ein, aber tu irgendetwas. Und lass mich nie wieder einfach so geh’n, okay?“
„Okay.“
„Und natürlich sind wir zusammen. Geschwister kann man nicht trennen. Niemals. Ich hab dir das schon mal gesagt. Nicht mal, wenn sie selbst das wollen würden, sie werden trotzdem immer Geschwister bleiben. Denn es gibt nichts, was stärker ist. Nichts im ganzen Universum.“
Erleichtert zog sie die Mundwinkel nach oben. Das waren sie. Das waren die Worte, die sie hören wollte, auf die sie die ganze Zeit über unbewusst so sehr gehofft hatte. Die Worte, die sie brauchte. Und Gibbli wollte nicht darüber nachdenken, ob sie echt waren oder wieder eine seiner Lügen. Sie entschloss einfach, dass sie wahr waren. Für eine Weile saßen die beiden schweigend da.
Irgendwann zog Abyss Djegos Strahler aus Gibblis Tasche und betrachtete ihn nachdenklich. „Ich wünschte, Sky hätte ihn nicht erledigt. Ich wünschte, er würde noch leben und ich könnte ihn leiden lassen. Ich will ihn mindestens hundertmal töten. Immer und immer wieder.“
„Abyss?“ Gibbli hob den Kopf von seiner Schulter. „Weißt du, was ich mich schon immer gefragt hab? Angenommen, Sky hätte ihn nicht erledigt. Wenn wir diesen Brotmensch dann Köpfen und er würde nicht sofort draufgeh’n, würde dann sein Kopf spüren, dass sein Körper fehlt, oder würde er im Körper spüren, dass ihm sein Kopf fehlt? Lebt man dann an zwei Stellen gleichzeitig?“
Er lachte. „Ich mag deine Gedanken. Schwer zu sagen, da er weder Hirn noch Herz besaß.“ Er hielt inne, dann wurde seine Stimme wieder ernster. „Ich schwör dir, jeder, der es wagt, dir zu nahe zu treten, wird elendig dahinscheiden. Ganz langsam. Niemand wird dich mehr anfassen. Dafür sorg ich. Auch Steven nicht.“
Erschrocken sprang Gibbli auf, als der Oceaner mitten aus einem Regal hindurch auf sie zutrat.
„Hörte ich da meinen Namen? Im Ernst? DU hast meinen Namen laut ausgesprochen? Ich bin entzückt, ich ... hm, nette Narbe Mensch, wer hat das geschrieben? Doch nicht etwa mein Mädchen?“ Belustigt betrachtete er Abyss‘ nackten Rücken.
Mit einem giftigen Gesichtsausdruck fuhr Abyss herum und hob dabei seinen Arm, in dem er noch immer Djegos Strahler hielt.
„Oha“, entwich es Steven überrascht, der nicht damit gerechnet hatte, so plötzlich in die Mündung einer Waffe zu starren.
„Verpiss dich“, knurrte Abyss.
„Nein“, sagte er schlicht und wandte sich Gibbli zu. „Ich will mit dir allein sein, Mädchen.“
Abyss drückte die Waffe gegen seine Schläfen. „Nein, das willst du nicht.“ Seine Worte klangen so bedrohlich, dass sie Stevens Kälte zu übertreffen schienen.
Doch der Oceaner ignorierte ihn. „Er soll gehen“, sagte er zu Gibbli.
Abyss fletschte die Zähne. „Nein, das soll er nicht.“
„Wir haben etwas zu klären, Mädchen! Denkst du, ich fürchte deinen Menschen? Nein, das tue ich nicht! Ich bin viel schlauer wie er!“
„Es heißt als er und nein, bist du nicht!“, berichtigte Abyss ihn.
„Natürlich bin ich viel klüger als wie du!“, widersprach Steven.
„Ich geb‘s auf“, murmelte Abyss düster.
„Ha, siehst du mein Schatz? Dieses fröhliche Gesicht wollte mich schon tausende Male erledigen und hat es nie getan.“
„Vielleicht tut er es ja jetzt“, meinte Abyss mit einem Ausdruck weit jenseits von fröhlich.
„Er bleibt und er wird dich nicht umbringen“, sagte Gibbli bestimmt.
Abyss gab ein missmutiges Grummeln von sich. „Vielleicht ein kleines bisschen doch?“, flüsterte er. „Nur ein Stück?“
„Na gut, dann bleibt er eben. Bist du sicher Mädchen, dass er unser Geheimnis erfahren soll?“
Sie legte den Kopf schief und blickte Steven berechnend an. „Ich glaube, er weiß das doch längst. Dir ist wieder langweilig. Und jetzt willst du mir die neue Aufgabe stellen.“
Abyss schüttelte den Kopf. „Nein, das will er nicht.“
„So? Will ich also nicht, Mensch?“, fragte Steven, während Gibbli geistesabwesend ihr Messer aus dem Stiefel zog.
„Nein, willst du nicht. Euer Spiel ist zu Ende.“
„Nicht ganz“, sagte Gibbli plötzlich. Steven schuldete ihr noch eine Strafe. Sie hatte ihm eine Aufgabe gestellt und er hatte abgelehnt, Abyss zurückzuholen. Dafür hatte sie den Gefallen einsetzen müssen, den er ihr schuldete. „Abyss? Ich bin nicht gut in Anatomie. Kannst du mir zeigen, wo genau sich seine Stimmbänder befinden?“, fragte Gibbli.
Ein fieses Grinsen breitete sich auf Abyss‘ Gesicht aus.

 

Der Kapitän stieg festen Schrittes die Rampe zwischen den Konsolen herab. „Abyss!“
„Ich war’s nicht!“, rief Abyss sofort, ohne zu wissen, um was es überhaupt ging und blickte auf.
Während er und Gibbli an den Sitzen vor dem Frontfenster vorbeigingen, hatte er noch immer vertieft seine neuen Finger bewundert. Gibbli hatte sie ihm überreicht, nachdem der Oceaner sich röchelnd davongeschleppt hatte. Das Handstück passte erstaunlich gut und es hatte nicht lange gedauert, seine abgetrennten Nervenenden damit zu verbinden. Abyss schaffte bereits einfache Bewegungen. Es würde nicht mehr lange dauern und er würde nicht mehr spüren, dass es sich nicht um seine echten Finger handelte.
„Was bei Ocea habt ihr mit Stevens Hals angestellt?“, fragte Sky scharf. „Bo musste ihn zusammenflicken, während er selbst sich halb totlachte!“
„Was? Oha, das hört sich ja schmerzhaft an. Hm, ja. Schon seltsam.“ Abyss zuckte mit den Schultern.
„Das ist nicht lustig!“
„Also ich find’s lustig. Sich totlachen klingt nach einem netten Tod.“
„Abyss!“
„Was regst du dich auf? Das war er doch selbst. So was kann passieren, wenn du deine Krieger zum Schlafen schickst statt in die Schlacht, weißt du?“
Dem Oceaner hatte es auch nicht viel ausgemacht, dachte Gibbli und erinnerte sich daran, wie er mit einem krächzenden Lachen Richtung Pflanzenlabor abgezogen war. Sie hatte es am Ende nicht über sich gebracht, es zu tun, woraufhin Steven ihre Hand gepackt hatte, um sich das Ding kurzerhand selbst in den Hals zu drücken. Mit Bo’s Hilfe würde er spätestens in ein paar Minuten wieder munter plappernd durch die Zentrale hüpfen.
„Sky“, murmelte Abyss plötzlich geistesabwesend und blieb abrupt stehen.
Der Kapitän kam ebenfalls vor ihm zum Stehen und starrte ihn düster an.
„Wo warst du?“, fragte Abyss leise, als würde er mehr mit sich selbst reden. „Wo warst du, Sky?“
Skys Miene änderte sich schlagartig. Er öffnete den Mund und atmete betroffen die Luft aus. Er hatte erkannt, wovon Abyss sprach.
„Du hättest da sein sollen.“
Der Kapitän schwieg. Plötzlich schlug Abyss zu und traf ihn am Kinn.
Gibbli schrie überrascht auf: „Nicht!“
„Du bist der Kapitän! DU HÄTTEST DA SEIN SOLLEN!“, brüllte Abyss und schlug wieder zu.
Sky wehrte sich nicht. Er fiel nach hinten auf die Rampe.
Gibbli packte Abyss am Arm, als dieser erneut ausholte. Er wollte sich auf den Kapitän stürzen! Schnell drängte sie sich dazwischen. Beinahe hätte Abyss sie getroffen. Kurz vor ihrem Gesicht hielt er inne. Sie stolperte, aber er packte grob ihren Arm, bevor sie ebenfalls zu Boden fallen konnte. Dann schob er Gibbli beiseite. Für einen Moment trafen sich ihre Blicke. Er hielt inne und seine Faust entspannte sich. Erleichtert zuckten ihre Mundwinkel nach oben.
Abyss wandte sich Sky zu, der mit emotionsloser Miene zu ihm hochblickte. Mürrisch streckte er dem Kapitän seine Hand entgegen und sagte: „Wir sind quitt.“
Gibbli war nicht ganz klar, was er damit meinte.
Sky zog die Augen zusammen. „Was?“
„Wir sind quitt“, wiederholte Abyss barsch.
„Du kranker, trauriger ...“
„Lügner? Mistkerl? Mörder? Soziopath? Willst du das sagen? Das bin ich!“
Der Kapitän schüttelte fassungslos den Kopf.
„Wie wär’s mit Wichtel? Verräter? Vergewaltiger?“
„... Mann!“, vollendete Sky seinen Satz.
„Kannst du nicht einfach ja sagen und meine Hand-“
„Abyss, verflucht! Das ist nichts, was man-“
„Wir sind quitt!“, wiederholte Abyss mit fester Stimme.
Der Kapitän zögerte. Dann nahm er seine Hand. „Nette Finger“, murmelte er.
Abyss grinste.

 

Gibbli schluckte nervös, als sie mit Abyss die Galerie betrat. Steven kam gerade aus dem Labor heraus. Sie atmete tief durch und blieb stehen.
„Ihr seid doch nicht schon am Feiern? Ohne mich?“, krächzte er. Die sonst so helle Stimme klang noch etwas angeknackst.
Düster begann Abyss zu murmeln: „Irgendwann trifft dich ganz zufällig ein Stromschlag aus undefinierbarer Quelle und-“
Gibbli gebot ihm zu schweigen. „Sky sagt, ich muss dich das gleiche tun lassen. Aber ich kann das nicht bei mir selbst tun, also musst du es auch bei mir tun. Und er meinte, ich soll dich um Verzeihung bitten. Aber das mit deinem Hals tut mir nicht leid.“ Sie war sich sicher, dass er beleidigt wäre, hätte sie sich bei ihm entschuldigt.
„Gutes Mädchen“, sagte Steven zufrieden.
Sie versuchte nicht zurückzuweichen und hoffte, dass Abyss ihm nicht alle Knochen brechen würde, wenn Steven gleich seine Finger nach ihrem Hals ausstreckte. Doch der tat nichts. „Worauf wartest du?“
Steven schüttelte den Kopf. „Gleiches mit gleichem, hm? Nein. Das wär doch langweilig. Bin ich der Kapitän? Oh, ich wär ein guter Kapitän. Aber so funktioniert das Spiel nicht, Mädchen.“
Gibbli atmete erleichtert aus. Stevens eisige Wellen drangen durch ihre Haut. Doch es machte ihr nichts mehr aus. Statt von ihm davonzuweichen trat sie direkt auf ihn zu. Steven legte fragend den Kopf schief. Er war nicht warm und er war kein Mensch, dachte Gibbli plötzlich. Es war nicht schlimm, oder? Bevor der Oceaner etwas sagen oder Abyss sie aufhalten konnte, umarmte sie ihn. Steven erstarrte in ihren Armen wie ein kaltes Stück Metall.
„Danke, dass du ihn zurückgebracht hast“, flüsterte Gibbli.
„Was ... warum ... was ist ...“, stotterte er. „Ja! Steven hat das gut gemacht! Was? Hä?“
Sie trat schnell wieder von ihm weg.
Für einen Moment starrte der Oceaner sie verwirrt an. Dann schüttelte er benommen den Kopf und trat ohne ein weiteres Wort an ihnen vorbei.
„Ich glaub, du hast ihn kaputt gemacht“, meinte Abyss, während Bo aus dem Labor kam.

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