Kapitel 14: Einen Kapitän ärgert man nicht (Bis in die tiefsten Abgründe)
Gibbli versuchte, sich abzulenken, und ging mehrere Male ihre Berechnungen zu den Erdbeben durch, die sie für Sky anfertigen sollte. Der Oceaner tippte im Vorbeigehen ein paar Dinge in ihr EAG und machte es sich dann auf dem Boden gemütlich, als hätte er gar nichts gemacht. Missmutig musste sie eingestehen, dass er ein paar Fehler ausgebessert hatte, einfach so. Mit konkreten Zahlen kam sie irgendwie nicht zurecht. Das Ergebnis, welches ihr elektronisches Aufzeichnungsgerät jetzt anzeigte, trübte ihre Laune allerdings noch mehr.
„Wenn es nach mir ginge, würde ich euch sofort zusammen in einem Raum einschließen, nur um zu sehen, was passiert.“ Steven saß jetzt neben ihr auf der Galerie über der Plattform an der Spitze Oceas, seinen Kopf lässig auf das Geländer gelegt und ließ seine Füße nach unten baumeln. „Menschen sind wundervoll. Manchmal steckt mehr Energie in ihnen als in einem Oca. Ich liebe es, wenn dieser törichte Kraftprotz durchdreht.“
Du hattest immer Recht, Steven, wir werden sterben, wir müssen einen Weg finden, die Maschine abzuschalten, es wenigstens versuchen, auch wenn du behauptest, dass es keine Möglichkeit dafür gibt, wir müssen unbedingt sofort los und Sky davon erzählen, die Berechnungen sind eindeutig! Genau das hätte sie jetzt sagen sollen. „Ich will zu ihm“, flüsterte Gibbli stattdessen.
Steven lächelte. „Es ist faszinierend, nicht wahr? Du wirbelst durch deinen blassen Mensch hindurch und hinterlässt eine Schneise aus Verwüstung. Mein heißer Wüstenwind. Du wirst noch besser als ich. Aber keine Sorge, die Auswirkung meiner Maschine wirst du nicht übertreffen. Dennoch, als Kind des Chaos wird es Zeit, deinem Titel gerecht zu werden, meinst du nicht auch? Wollen wir nicht endlich sehen, wie viel dieser Pläneschmieder aushält?“
Gibbli hatte keine Ahnung, wovon der Oceaner jetzt schon wieder sprach. War doch auch egal.
„Lebe. Liebe. Spiele! Und zerbrich nicht länger deinen hübschen Kopf. Mach dir lieber Gedanken um deine Aufgabe, mein Mädchen. Du hast sie noch immer nicht gelöst.“
Seine dämliche Herausforderung, daran hatte sie gar nicht mehr gedacht. Sie wollte auf keinen Fall Djego küssen! Oder? Gibbli schüttelte den Kopf. Wie konnte sie das auch nur je in Erwägung ziehen? „Was muss passieren, damit dieses dumme Spiel endet?“
„Töte mich.“ Stevens Zähne blitzten auf.
„Was?“
„Nun, du kannst dich auch selbst umbringen. Oder es versuchen, denn das würde ich natürlich nicht zulassen.“
Wütend zog sie die Augen zusammen. „Es endet also, wenn einer von uns stirbt.“ Vielleicht wäre es wirklich das beste, zu sterben, dachte Gibbli.
Stevens Blick schweifte in die Ferne und er fuhr träumerisch mit einem Arm durch die Luft. „Denk an die Vorteile. Das solltest du wirklich. Es macht dich mutiger. Und dieses wundervolle Spiel hat dir eine konservierte Hand eingebracht. Wo ist sie eigentlich?“
Gibbli blickte nach unten auf das ausgeschaltete Portal und blieb ihm die Antwort schuldig. Sie hatte keine Lust mehr, mit ihm zu reden. Sie hatte keine Lust mehr, überhaupt mit irgendwem zu reden. Alles ging schief. Und Abyss hasste sie. Die Maschinenfinger für ihn lagen versteckt in einer der Hütten der obersten Etage Oceas. Sie wollte nicht riskieren, sie hier auf der Plattform offen liegen zu lassen. Es fehlten nur noch ein paar Verbindungen, dann würde Abyss sie benutzen können. Wenn er sie denn überhaupt haben wollte.
Eine halbe Stunde später kam Samantha und blieb unter ihnen auf der Plattform stehen. Müde lehnte sie sich an eine Säule und betrachtete Gibbli mit diesem sorgenvollen Blick. Bestimmt würde sie gleich wieder davon sprechen, wie blass ihre braune Haut doch geworden war. Darüber, wie matt ihre Haare seien und dass sie mehr essen sollte. Doch nichts dergleichen passierte.
„Sky hat es geschafft, Abyss zu beruhigen. Euer Kapitän will, dass wir alle auf die Mara kommen. Er ist ... ziemlich sauer.“
In der Zentrale des U-Bootes trafen die drei auf Abyss und Sky.
„Steven putzt, putzt, putzt“, murmelte der Oceaner und sonderte sich von ihnen ab. Er hopste am Tisch vorbei und fing an, unter der Küchentheke an irgendwelchen Gerätschaften herum zu schrauben.
Währenddessen näherte sich Gibbli dem runden Tisch. Ihr Blick fiel dabei auf Abyss. Die Finger ineinander verschränkt saß er da und betrachtete sie mit einem seltsam düsteren Blick, der ihr Unbehagen bereitete. Der Kapitän stand mit dem Rücken am Geländer vor dem Abgang zu den Konsolen hinunter und wandte sich ihnen zu. Er wirkte ruhig. Doch wie Gibbli ihn kannte, hielt er seine Wut zurück. Erschöpft ließ sich Samantha auf der gebogenen Bank nieder. Ein surrendes Geräusch ertönte und Steven kam vom Küchenbereich auf die Bank zu, stieg darauf und balancierte auf ihr entlang. Dann setzte sich der Oceaner einfach mitten auf den Tisch, die runde Kugel hinter ihm schwebend. Gibbli blieb zögernd vor ihnen stehen. Sie traute sich nicht, sich neben Abyss zu setzen. Seine grauen Augen folgten jeder ihrer Bewegungen. Sie sollte dem Kapitän von ihren Berechnungen erzählen, wagte es jedoch nicht, zu sprechen.
„Wir haben noch immer keine Nachricht von Bo und Nox“, begann Sky ohne Umschweife. Seine Stimme übertönte das lauter werdende Surren. „Wir wissen nicht, ob sie Erfolg hatten. Ohne die Meermenschen ist unser Vorhaben kaum umsetzbar. Ich muss wissen, ob noch Hoffnung besteht, meinen Plan zu verwirklichen. Besteht Hoffnung, Abyss?“
Abyss wandte den Blick von Gibbli ab, dem Kapitän zu und verschränkte die Arme. Dann schüttelte er leicht den Kopf. Sky forderte ihn auf, von seiner Mission zu berichten.
Abyss begann in knappen Worten zu erzählen. Zusammengefasst, er war katastrophal gescheitert. „Ich musste einige Tiefseemenschen beseitigen, um zu fliehen. Nun ja, vielleicht ein paar mehr als nur einige.“
Steven lachte. „Haha, ja, dein Gesicht sieht noch immer aus wie ein Regenbogenfisch!“
Abyss sprang auf und fuhr ihn mit erhobenem Zeigefinger an. „Das ist nur deine Schuld, Goldklumpen!“
„Abyss“, sagte Sky warnend.
Abyss schnaubte, ging um den Tisch herum und trat mit verschränkten Armen zu Sky ans Geländer. Gibbli, die ihm jetzt gegenüberstand, widerstand dem Drang zurückzuweichen. Ein kleiner Roboter kam aus dem Küchenbereich auf sie zugefahren. An seinen Seiten war ein Besen angebracht und eine Art Saugvorrichtung.
Steven grinste und hob beide Arme. „Du missverstehst mich, ich meinte das nicht negativ, durchaus nicht, nein. Meinen größten Respekt, ich hätte erwartet, du kommst in mehreren Stücken zurück. Wirklich gute Arbeit, Mensch.“
„Gute Arbeit?“, wiederholte Sky erbost. Der Roboter fuhr um seine Kampfstiefel herum und zwischen seinen Beinen hindurch. „Hör gefälligst auf, so zu denken! Und schalte dieses Ding aus, es nervt!“ Er kickte den Roboter beiseite.
Klagend sprang Steven auf. „Ja, ja, erst will er, dass sein U-Boot sauber bleibt und jetzt dürfen wir es nicht putzen.“
Abyss blickte den Oceaner abfällig an, als dieser sich bückte und die kleine Maschine aufhob.
Steven drückte auf einen Knopf an dem Staubwischerroboter. Doch dieser surrte einfach weiter. „Ich mache alles glitzernd blank für den Kapitän, aber nein!“ Erneut drückte er ein paar Mal auf den Knopf. Doch vergeblich, das Ding schaltete sich nicht ab. „Immer diese Menschlein, ständig müssen sie sich selbst widersprechen!“
„Du musst den Hebel da an der Seite-“, begann Gibbli leise, doch zu spät.
Der Oceaner warf den Roboter mit voller Wucht gegen eine Wand. Das Ding zersprang in mehrere Einzelteile. Metallstücke und kleine Zahnräder verteilten sich quer über den Boden. Steven zuckte mit den Schultern und setzte sich wieder auf den Tisch.
„Was hast du erwartet, als du uns aufgenommen hast, dass wir uns wehrlos zerfetzen lassen wie beknackte Elitesoldaten?“, murmelte Abyss.
„Okay, wir müssen das jetzt klären. Keine Morde mehr! Das gilt für alle! Wenn jemand bedroht wird, dann bedroht ihn meinetwegen zurück. Aber bringt nicht gleich alles um, was sich bewegt!“
„Das funktioniert nicht“, Steven fuchtelte mit den Händen in der Luft herum und ballte dann eine zur Faust. „Gleiches mit Gleichem? Zu dumm, dass man niemanden mehr zurück ermorden kann, wenn man selbst davor ermordet wurde.“
„Ich stimme ihm ungern zu, aber er hat recht, Sky. Das ist doch Dreck! Nach deiner Gerechtigkeitsscheiße müsstest du auch jemanden zurück vergewaltigen, wenn jemand dich-“
Gibbli riss erschrocken die Augen auf, als Abyss plötzlich aufschrie. Sky hatte ausgeholt und auf ihn eingeschlagen.
„Wahahaha, Menschen.“ Steven machte einen zufriedenen Gesichtsausdruck.
Schwer atmend hielt sich Abyss am Geländer fest und richtete sich wieder auf. „Sky ...“
„Was?“, knurrte der Kapitän. „Was willst du? Du willst wissen, warum ich dich schlage, weil du mich ja nicht geschlagen hast?“
„Das ... das wollte ich nicht sagen“, erwiderte Abyss leise.
„Wie viele Menschen hast du bereits geschlagen, Abyss? Ich weiß es nicht, aber sicher zu viele! Es ist mir egal, wofür es genau war, such dir doch jemanden aus, mit dem du jetzt quitt bist.“
Abyss lachte auf. „Ist das ab sofort deine Ausrede dafür, mich zu schlagen?“
„Du hast gemordet“, sagte Sky langsam. „Du hast ... Sei froh, dass du Mitglied meiner Crew bist! Denn sonst würdest du längst nicht mehr hier stehen.“
„Und du bist natürlich perfekt.“ Abyss schnaubte. „Unser Kapitän, der große Held.“
„Ich bin weder perfekt noch heldenhaft. Ich habe wegen euch getötet und das weißt du!“
„Nun, ich bin perfekt!“, sagte Abyss überdeutlich.
Gibbli trat unsicher einen Schritt zurück. Wenn Abyss mit diesem drohenden Unterton in seiner Stimme sprach, wurde er gefährlich. Und schon gar nicht sollte man in der Nähe stehen, wenn gleichzeitig auch noch der Kapitän in dieser gereizten Stimmung war.
„Ich bin gut, Sky. Und im Gegensatz zu deinen Plänen funktionieren meine immer. Und diese Scheiße von Brot bring ich um, ob du das willst oder nicht!“
Im nächsten Moment zog Sky seine Waffe und richtete sie direkt auf Abyss‘ Brust.
„Hach, ich wünsche mir ... wie nennt ihr das ... Popcorn!“, flüsterte Steven vom Tisch aus. „Ja, genau, wie in euren Kinos.“
Gibbli gelang es nicht, sich daran zu erinnern, ob sie den Begriff Kino irgendwann einmal in einem Kurs gehört hatte.
„Ach, nein das war vor eurer Zeit, als ihr Elitefuzzis von Landmenschen noch Spaß hattet. Aber ich kann ja sowieso keine Nahrung zu mir nehmen, das wäre eklig ... hey, Menschenfrau, was ist mit dir?“ Er stupste Samantha vorsichtig an. „Sie schläft schon wieder.“
Samantha hatte ihren Kopf auf die Arme gelegt und die Augen fest geschlossen. Gibbli fragte sich, wie man bei dieser angespannten Stimmung schlafen konnte. Sie drehte sich wieder vorsichtig zu den anderen um. Der Kapitän und Abyss standen für einige Sekunden bewegungslos einander zugewandt vor dem Geländer.
„Es reicht, Abyss.“ Sky drückte den Strahler gegen sein ärmelloses Hemd, um sich ihm noch weiter zu nähern. Ihre Köpfe berührten sich fast. „Wenn du noch einmal so mit mir redest, schieße ich dir den Rest deiner verdammten Finger auch noch ab“, sagte der Kapitän ruhig. „Und du weißt, warum ich das eben getan habe, warum ich dich schlug. DU WEIST ES GANZ GENAU!“
Den letzten Satz hatte er ihm ins Gesicht geschrien und Gibbli zuckte zusammen, während Steven ein überraschte „Oh“ entfuhr.
„Weiß ich“, gab Abyss düster zurück. „Mach weiter, ist okay.“
Der Kapitän schüttelte gequält den Kopf. „Nein ist es nicht.“ Langsam senkte er die Waffe. Dann wandte er sich von ihm ab und steckte sie zurück in seine Tasche.
Gibbli hatte das Gefühl, dass es hier um etwas ganz anderes ging, als um Abyss‘ oder Skys Morde.
„Noch mal, Sky, dir war bewusst, dass wir keine Heiligen sind, als du uns aufgenommen hast.“ Abyss‘ Stimme klang nicht mehr ganz so bedrohlich wie zuvor. „Niemand hier“, fügte er hinzu und warf Gibbli einen kurzen Blick zu, der sie für einen Moment schwerelos fühlen ließ.
Sky schloss die Augen und blickte dann über die Konsolenreihen hinweg aus dem großen Frontfenster. „Hast du einmal darüber nachgedacht, dass ich euch vielleicht gerade deswegen in meiner Crew wollte?“
Verwirrt kniff Abyss die Augen zusammen.
„Ach ... Jetzt wird es interessant“, flüsterte Steven.
Der Kapitän lächelte plötzlich. „Du musst noch viel lernen, Abyss. Es ist immer besser, die richtig üblen Kerle auf der eigenen Seite zu haben als zum Feind. Denn dann hat man sie besser unter Kontrolle.“
„Du hinterlistige Kakerlake!“, knurrte Abyss.
Samantha schreckte aus dem Schlaf hoch, als Steven aufsprang und jetzt neben ihr auf der Bank stand. „Mich hat niemand unter Kontrolle!“
„Wie schön. Ihr seid euch ja endlich in etwas einig. Vielleicht werdet ihr ja doch noch so etwas wie-“
„Niemals!“, riefen Abyss und Steven gleichzeitig.
„- Freunde“, vollendete Sky seinen Satz.
„Wo sind Kakerlaken? Ich habe etwas verpasst, oder?“, murmelte Samantha nach einer Weile, als niemand mehr etwas sagte.
„Jack ist ein richtig übler Kerl, aber ihm gehst du nicht auf die Nerven“, sagte Abyss leise. „Es wär so leicht, wenn du mich ihn einfach abknallen lässt.“
„Er will die Landmenschen nur beschützen“, gab Sky zu bedenken.
„Und ich will ihn tot sehen. Und diesen kack Brotmensch auch.“
„Er heißt Djego.“
„Mir doch egal.“
Der Kapitän fuhr sich mit einer Hand durch seine Dreadlocks. „Du machst mich fertig.“
Gibbli konnte nicht mehr länger warten, er musste es erfahren, jetzt. „Sky ...“, begann sie und Abyss wandte sich ihr sofort zu. Nervös sprach sie weiter. „Sky, es ... es gibt da etwas, was du wissen solltest.“
Der Kapitän hob genervt den Kopf. „Ach, jetzt verrätst du mir also endlich, was du angestellt hast. Sprich!“
Gibbli schluckte, zog ihr EAG und öffnete ihre Berechnungen. „Die Abstände der abnormalen Beben verringern sich exponentiell“, sagte sie und blickte Sky dabei nicht an. „Man merkt das nicht, wenn man sich am gleichen Ort aufhält, wir ... also ... wir werden die Auswirkungen erst gegen Ende zu spüren bekommen.“
„Das bedeutet ...“
„Dass Steven die ganze Zeit recht hatte.“
„Natürlich, ich habe immer recht, ich bin ein Genie!“ Auch wenn sie es nie aussprechen würde und die verstreuten Einzelteile des Staubwischerroboters nicht gerade dafür sprachen, stimmte Gibbli ihm im Stillen zu. „Im Gegensatz zu euch Menschen. Macht euch keine Hoffnungen. Eure winzige Auffassungsgabe ist nicht heilbar, nein, nein. Die Welt, wie wir sie kennen wird nicht mehr lange existieren.“
„Schweig!“, fuhr der Kapitän den Oceaner an. Dann nahm er einen tiefen Atemzug. „Gibbli?“
„Das Ergebnis ist eindeutig. Wenn wir diese Maschine nicht abschalten, wenn sie mich oder Steven nicht registriert, dann ...“ Sie blickte ihn ernst an. „Wir sterben.“
„Wie lange bleibt uns?“, fragte Sky mit einer Ruhe, die ihr Furcht einflößte.
Sie hielt ihm die Berechnungen hin und deutete auf eine Zahl.
Plötzlich ertönte hinter ihnen ein kurzer, schräger Piepton. Gibbli erkannte ihn sofort. Es handelte sich um den Alarm der Mara! Ein Warnsignal.
Der Kapitän befahl ihr mit einem ruckartigen Nicken, nachzusehen.
Dieser unangenehmen Situation zu entkommen, war Gibbli nur recht. Sie rannte sofort an ihm vorbei, hinab in die oberste Konsolenreihe. Ihr Finger tippte auf einen Bildschirm. Eine Meldung leuchtete in grellem Orangeton auf. „Das ist ein Text. Ich kann ihn nicht lesen.“
„Abyss, übersetzen“, befahl Sky, ohne sich vom Platz zu rühren.
Gibbli hörte, wie Abyss sich in Bewegung setzte. Ihr Herz pochte schneller. Bevor sie sich von der Konsole entfernen konnte, stand er schon hinter ihr. Sie spürte seine Wärme an ihrem Rücken und wagte es nicht, aufzusehen. Der vertraute Duft von altem Holz trat in ihre Nase. Abyss‘ Atem fuhr durch ihre Haare über ihre Stirn, als er sich vorbeugte, um zu lesen, was auf dem Bildschirm stand.
„Da stimmt was mit einer Luke nicht“, meinte er leise. „Hier steht, jemand versucht einzudringen.“
„Beschränkte Menschlein. Das hätte ich euch auch sagen können, aber mich fragt ja keiner.“
Sie drehten sich um. Steven legte grinsend seine Hand auf die Kugel über dem Tisch. Der Nebel darin formte sich zu einem Bild. Gibbli erkannte ihn sofort. Djego stand vor der Schleuse und versuchte, hinein zu gelangen. Jetzt schlug er gegen die Scheibe und schrie irgendetwas. Doch die Kugel übertrug keinen Ton. Abyss neben ihr murmelte etwas Unverständliches. Gibbli war sich sicher, dass es sich um einen ganz bösen Fluch handelte.
Sky nickte Steven zu. „Na schön, hole ihn rein. Und du bleibst an seiner Seite, solange er sich an Bord befindet.“
Abyss Körper spannte sich gefährlich an. „Das hat man davon, wenn man von der Person des Grauens spricht.“
Als die besagte Person des Grauens mit Steven den Raum betrat, presste Gibbli nervös die Lippen aufeinander. Abyss‘ linke Hand wanderte zu einem seiner Messer.
„Nicht“, flüsterte sie, was ihr einen tödlichen Blick von ihm einbrachte.
Doch er ließ das Messer stecken. Währenddessen trat Djego aufrecht vor Sky und beachtete weder Gibbli noch sonst irgendjemanden.
„Ich überbringe eine Nachricht im Namen von Jack. Er willigt ein, die Sender abzuschalten, falls du dich mit ihm triffst. Allein. Auf dem zentralen Hof zwischen den Gebäuden in Stockwerk 18. Und ich sollte auch ausrichten, dass es das letzte Mal sein wird, dass er dir dieses Angebot unterbreitet.“
Sky blickte ihn an, sein Gesicht so verschlossen wie fast immer und nicht zu deuten. „Ich will Bedenkzeit.“
„Du willst was?“, fragte Steven und lachte dann hysterisch auf. „Du bist lustig.“
Samantha, die die ganze Zeit über müde dem Gespräch gefolgt war, blickte Sky ungläubig an.
„Kapitän, den Worten dieses ... Außerirdischen zufolge bricht unsere Welt auseinander. Und die Berechnungen der geologischen Abteilung besagen das gleiche“, gab Djego Jacks Wunsch Nachdruck. „Nur noch wenige Tage. Mit jedem Beben schwindet unsere Realität ein Stück mehr und es sterben Menschen! Ihr solltet endlich verhandeln, bevor es zu spät ist!“
„Schweigt, seid verflucht noch mal still!“, rief Sky aufgebracht. Dann wurde er wieder ruhiger. „Hört auf, meine Worte in Frage zu stellen, ich kann es nicht mehr hören! Ich sagte, ich will Bedenkzeit. Jack bekommt meine Antwort. Morgen.“
Djego sah aus, als wollte er ihm widersprechen, dann überlegte er es sich anders und trat eingeschüchtert von seinem Blick einen Schritt zurück. „Ja, Kapitän.“
„Geh.“
Djego hob seinen Kopf und fixierte für einen Moment Gibbli. Ein Kribbeln stieg in ihr hoch und unwillkürlich wich sie zurück, bis sie mit dem Rücken an die Konsole stieß. Dann drehte er sich um und Steven führte Djego hinaus. Die dämliche Aufgabe fiel ihr wieder ein. Abyss würde ausrasten. Sie konnte das nicht tun, oder?
„Hey!“, schrie er auf einmal, packte Gibbli und zog sie zur Seite. Funken stoben aus dem Schaltpult hinter ihr. Abyss hatte sie gerade noch rechtzeitig vor einem Stromschlag bewahrt. Gibbli war mit dem Ellbogen an einen Schalter gekommen und hatte damit irgendetwas ausgelöst. Verdammt, wieso musste sie nur immer so sehr in ihre Gedanken versinken!
Sie hastete wieder auf die Konsole zu. „Ich wollte nicht ... ich ... krieg das wieder hin ... ich ...“ Sie würde das nicht reparieren können, das erkannte Gibbli sofort. Das hier war ein Kurzschluss, der aufgrund der Überlastung des Schaltkreises zum Schutzschild der Mara hin aufgetreten war. Ohne den Adapter würde das Ding nicht mehr funktionieren.
„Raus aus meiner Zentrale“, knurrte Sky sie plötzlich an.
„Was?“ Sie schnappte nach Luft und ging langsam rückwärts, die Rampe hinab, Richtung Frontfenster.
„Warum fährst du sie so an?“, fragte Samantha aufgebracht. Sie stand schwankend auf.
„Ich bin nicht laut geworden!“, erwiderte der Kapitän genervt.
„Ja, aber mit deiner ruhigen Art machst du die Leute irre, das hört sich bedrohlicher an, als wenn du einfach schreien würdest. Ich meine ... tut mir leid, ich bin so müde, worum ging es gerade?“, fragte Samantha verwirrt.
„Verschwinde“, sagte Sky wieder an Gibbli gewandt.
„Lass sie in Ruhe!“
„Misch dich nicht ein, Abyss.“
„Ach, und wer soll das dann reparieren, wenn du sie wegschickst?“
„Steven“, antwortete Sky knapp.
„Er?“ Abyss schüttelte angewidert den Kopf. „Willst du, dass wir sterben?“
„Wir werden sowieso alle sterben“, sagte Steven fröhlich, als er die Zentrale wieder betrat und tapste am Tisch vorbei zu ihnen nach vorne. „Um was geht es, soll ich jemanden beseitigen?“
„Jetzt haltet verflucht noch mal den Mund! Gibbli, du missachtest erneut meinen Befehl! Geh! Ich will dich heute nicht mehr hier oben sehen. Ich will heute keinen mehr von euch sehen!“ Sky drehte sich um und eilte zur Seitentür, um in seinem Raum zu verschwinden.
„Was habt ihr jetzt schon wieder angestellt?“, fragte Steven mit einer Stimme, die wohl Skys ähnlich klingen sollte.
Gibbli schüttelte betrübt den Kopf, drehte sich um und eilte hinab, vorbei an den drei Sitzen, um die Baumstämme herum und ins untere Stockwerk. Sie konnte hier ja sowieso nichts machen. Im Gang zwischen dem Badezimmer und der Maschinenräume glitt sie an einer Wand hinab und schloss ihre Augen. Sky musste es erfahren. Das mit dem Schutzschild. Aber sie konnte es ihm nicht sagen. Der Kapitän würde sie nie wieder sehen wollen! Er war jetzt schon so wütend. Und das lag sicher nicht an der Tatsache, dass diese Zeitgravitationsbeben ihren Planeten vernichten würden. Mit den Berechnungen erzählte sie ihm nichts neues, Steven hatte es ihm in seiner übertreibenden Art ständig immer und immer wieder gesagt. Lediglich der genaue Zeitpunkt war neu.
„Sam, lass mich ... ich ... will allein sein“, sagte Gibbli, als sie merkte, dass Samantha ein paar Minuten später vor ihr auftauchte.
„Steven hat sich die Konsole angesehen.“
„Und?“
„Naja, nachdem Abyss ihn auf einen Ölfleck an seiner Stirn aufmerksam gemacht hat, schrie er herum, er solle ihn wegmachen. Steven ist halb durchgedreht und dann weggerannt, um ... ähm, keine Ahnung was zu machen. Du kennst ihn doch besser als ich, er übertreibt es mit seinen Emotionen. Und materielle Dinge, die unbeabsichtigt an ihm kleben bleiben, findet er eklig.“
„Und die Konsole?“
„Er hat nichts dazu gesagt. Du bist doch die Technikerin.“
„Jetzt nicht mehr.“
„Unsinn. Sky ist nur genervt.“
„Er wird mich rauswerfen.“
„Wahrscheinlich wär das sogar das beste für dich. Aber dann hätte er nur noch Steven und der ist nicht gut in so was, oder?“
Gibbli zuckte mit den Schultern. „Er macht wohl mehr kaputt als ganz.“ Der Oceaner konnte einem vielleicht die theoretische Funktionsweise von all dem hier bis ins kleinste Detail erklären, aber wenn es an die praktische Umsetzung ging, tat er so, als hätte er keine Finger. Ohne Finger. Wie er, dachte sie. „Wo ist Abyss?“
„Er versucht in Skys Raum zu kommen. Der Kapitän hat sich eingeschlossen.“
„Warum lässt er ihn nicht in Ruhe?“ Okay, die Frage war dumm, weil Abyss Skys Erlaubnis wollte, Jack umzubringen und Abyss ließ nie jemanden in Ruhe, wenn er etwas wollte.
Samantha zuckte mit den Schultern. „Wenn du möchtest, versuche ich, mit Sky zu reden.“
„Nein.“
„Soll ich mit Abyss sprechen?“, fragte sie, wirkte dabei jedoch nicht so, als würde sie das wirklich wollen.
Gibbli schüttelte den Kopf.
Nach einer ziellosen Wanderung durch die verwinkelten Gänge der Maschinenräume zog Gibbli ihre Stiefel aus. Sie verkroch sich bei ihrer Hängematte, legte sich allerdings nicht hinein. An Schlaf auch nur zu denken erschien ihr wie ein Witz. Stattdessen lehnte sie sich direkt davor am Boden an eine Maschine. Dort, wo er immer lag. Auf seiner Decke. Gibbli schloss die Augen. Hunderte von Gedanken strömten sofort durch ihren Kopf und gaben ihr das Gefühl, dass ihr Gehirn gleich platzen würde. Nach ein paar Minuten entschloss sie sich, wieder aufzustehen. Doch so weit kam es nicht. Als Gibbli ihre Augen öffnete, saß er vor ihr. Einfach so.
„Abyss“, flüsterte sie erschrocken.
Wie lange saß er hier schon? Wie schaffte er es immer wieder, sich so lautlos anzuschleichen?
„Hallo Gibbli.“
Unsicher beobachtete sie ihn und überlegte, ob ihr Zeitgefühl kaputt gegangen war. Vielleicht hatte sie nur wieder geträumt oder war doch für einen Moment eingeschlafen? War dieser rote Streifen auf dem blassen Gesicht ein Anzeichen von Wut oder nur die Überreste einer seiner zahlreichen Wunden? Wie erkannte man, ob ein Mensch zufrieden aussah oder gleich mit einem Messer auf einen losstürmen würde? Abyss atmete ruhig, doch seine Miene wirkte, als ob ihm etwas an ihr missfiel. Berechnend betrachtete er sie, ohne irgendeine Regung oder auch nur zu blinzeln und Gibbli starrte zurück. Eine halbe Ewigkeit schien zu vergehen und Gibbli dachte schon, sie wären beide zu Stein erstarrt, als er langsam den Mund öffnete.
„Du wirkst zerbrechlicher.“ Sein Tonfall klang vorwurfsvoll und traurig zugleich.
Abyss war der Einzige, bei dem ihr so etwas auffiel. Jedenfalls dachte Gibbli das. Sofort verspürte sie den Drang, ihn aufmuntern zu wollen. Doch sie hatte keine Ahnung, wie so etwas funktionierte. Und dieses Gefühl, diese unsichtbare Mauer zwischen ihnen, ließ sie alle Vorsicht hochfahren. Gibbli stützte die Hände auf dem Boden ab, jederzeit bereit aufzuspringen.
„Was willst du?“ Sie hasste die Unsicherheit in ihrer Stimme und wahrscheinlich klang ihre Frage wieder einmal viel aggressiver als beabsichtigt.
Doch Abyss blieb ruhig. „Begrüßt man so einen ... Bruder?“
Für den Bruchteil einer Sekunde erkannte Gibbli sein vertrautes Lächeln. Dann, sofort, wurde er wieder ernst. Aber diese kurze Regung reichte aus, um etwas in ihr zum Überlaufen zu bringen.
„Abyss, ich hab ein Problem“, sprudelte es aus ihrem Mund hervor.
„Du siehst aus, als hättest du mehr als nur eins.“
„Ich hab Mist gebaut.“
„Die Art von Mist, bei dem dir dein Lockenwickler nicht helfen kann?“
Gibbli presste die Lippen aufeinander und zog die Entscheidung, es ihm zu sagen, zurück.
Das gefiel ihm wiederum nicht. Gar nicht. Sofort änderte sich sein Ausdruck. „Was ist? Der Wichser hat es nicht verdient, dass ich seinen Namen ausspreche!“ Abyss beugte sich nach vorne. „Erwartest du, dass ich ihm Essen in den Mund schaufle, wie einem Baby? Soll ich es ihm auch noch vorkauen? Einen Knicks vor ihm machen und ihn mit Euer Hoheit ansprechen, willst du das?“
„Ich hab’s verstanden, du magst ihn nicht!“
„Nicht mögen? Nein, ich verabscheue ihn. Abgrundtief!“
Gibbli nickte und zog sich an der Maschine nach oben. Das goldene Metall unter ihren Fingern fühlte sich kalt an. Fast rutschte sie ab, konnte sich gerade noch festhalten. Dann wandte sie entschieden ihren Blick ab und trat an ihm vorbei, um zu gehen.
„Hey! Jetzt bleib-“ Er packte im Vorbeigehen ihr Handgelenk und drehte sie zu sich herum.
Der Maschinenraum begann sich für einen Moment um ihren Kopf zu drehen. Gibbli wäre geschwankt, doch Abyss hielt sie so fest an den Schultern, dass sie es nicht konnte. Täuschte sie sich, oder waren seine Hände größer geworden? Ihre Finger umklammerten seine Handgelenke, während sie versuchte, diese wegzudrücken. Natürlich ohne Erfolg. Am Boden kniend, befand sich sein Gesicht fast auf selber Höhe wie das ihre.
„Warum gehst du jetzt?“, fuhr er sie an. „Ich durchschaue jeden und ich versichere dir, er hat nichts Gutes im Sinn. Meinetwegen häng mit dem dämlichen Goldklumpen ab, aber nicht mit ihm. Und ich mag es nicht, wenn du schweigst, also rede!“
„Das wollte ich! Ich ...“ Sie gab die Versuche auf, sich loszureißen. „Ich wollte dir gerade ein Geheimnis anvertrauen, aber offensichtlich interessiert dich dieser dumme Soldat mehr als ich!“
„Du weißt, dass das nicht wahr ist. Und er ist nicht dumm, er ist ein hinterlistiges Arschloch“ Abyss fixierte sie mit seinen grauen Augen. „Ich bin einfach nur ... Was hast du angestellt?“
„Was bist du?“, entkam es ihr wütend. Die Besorgnis in seiner Miene ließ sie wieder etwas ruhiger werden.
„Ein Idiot? Das höre ich oft, also muss es wohl stimmen. Jetzt sag’s mir.“
Sie öffnete den Mund und hielt inne. Er schenkte ihr seine volle Aufmerksamkeit, als wäre sie das wichtigste auf der Welt. Abyss wusste genau, wie man jemanden zum Reden brachte. Verschämt blickte Gibbli nach unten auf ihre Zehen. Wenn sie nicht aufpasste, würde sie ihm mehr verraten, als sie eigentlich wollte. Von Stevens Namen durfte er nie erfahren!
„Gibbli.“ Seine rechte Hand fuhr zu ihrem Kinn und drückte es nach oben.
Dieser bohrende Blick war kaum auszuhalten! „Abyss?“, flüsterte sie.
„Hm?“
„Hypnotisierst du mich gerade?“
Seine Mundwinkel zogen sich nach oben und die Falten unter und neben seinen Augen wurden tiefer. „Nein.“
Diesem Grinsen konnte man nicht widerstehen. „Ich hab den Schutzschild der Mara gegrillt“, sagte Gibbli leise. Jetzt hatte sie es ausgesprochen.
Abyss‘ Griff lockerte sich ein wenig. „Verstehe. Sky weiß es nicht.“
„Wir werden sterben. Meinetwegen!“
„Du kannst ihn reparieren“, sagte er schlicht, als sei es das normalste auf der Welt. Abyss machte ihr keine Vorwürfe. Er war nicht wütend. Er gab ihr nicht das Gefühl, sich schämen zu müssen. Und es war ihm anscheinend vollkommen egal, dass es ihre Schuld war.
Gibbli schüttelte den Kopf. „Ich hab’s versucht. Ich versuche das seit Tagen!“
„Aber du kannst alles reparieren.“
„Nein ... also es würde vielleicht gehen, mit einem Adapter. Aber so einen gibt es hier nicht. Die Mara besteht nicht vollkommen aus oceanischer Technologie.“
„Und wo gibt‘s so ein Ding?“
„In der Elite werden diese Adapter häufig benutzt für alle möglichen Arten von Energieversorgungsleitungen. Ich bin mir sicher, wir würden einen im Ausrüstungslager von Jacks Soldaten finden.“
Abyss blickte sie fragend an. „Okay. Und wo genau liegt dann das Problem?“
„Jack? Er und tausende von Soldaten da unten?“
„Ach komm, das kriegen wir hin.“ Seine blonden Haare hingen ihm wild ins Gesicht, auf dem sich ein verwegener Ausdruck breitmachte. „Ich bastle wieder ein paar dieser Festluftbomben. Kein Problem.“
„Aber-“
„Nichts aber, ich krieg alles hin! Nun ja, nicht immer so schnell, wie ich’s mir wünsche, aber ich krieg’s hin. Versprochen.“
„Das ist ...“ Gibbli blickte ihn fassungslos an. „Das ist ... wahnsinnig.“
Bevor sie das letzte Wort ausgesprochen hatte, war Steven ein paar Meter weiter aus einer angrenzenden Wand heraus getreten.
„Wahnsinnig? Ich hoffe, das war ein Kompliment, Mädchen“, sagte er mit seiner klaren Stimme.
„An mich“, knurrte Abyss und ließ Gibbli los.
Misstrauisch musterte er Steven, während Gibbli zurücktrat und sich an eine Maschine lehnte. Mit zusammen gekniffenen Augen betrachtete sie die rote Spur, die seine Füße auf dem Metall hinterließen. Der Oceaner kam geduckt auf sie zu, von oben bis unten so dermaßen blutüberströmt, dass man seine goldene Haut kaum noch erkennen konnte.
„Scheiße, man“, murmelte Abyss.
„Ich bin ein Genie, vergesst das nie!“
„Ja, so siehst du aus!“ Abyss lachte schadenfroh.
Steven warf ein unsymmetrisch geformtes Metallstück vor Gibblis Füße.
„Der Adapter“, rief sie überrascht. „Du warst ... du hast ...“
„... da unten ein wenig aufgeräumt? Ja, Mädchen.“
„... du weißt was ich ... was ich ...“
„... was du mit meiner geliebten Mara angestellt hast? Denkst du, mir fällt das nicht auf? Ich erinnere euch erneut daran, das hier ist mein Gebiet, mein Zuhause, mein Kind! Vielleicht mag ich sie nicht gern reparieren und mich in dreckigem Maschinenöl wälzen, aber ich merke dennoch, wenn ihr etwas fehlt, ganz recht! Also mach das wieder ganz, Mädchen, während ich mir dieses grässliche Zeug abwasche. Fremdes Blut ist so eklig, bah!“
„Bist wohl aus Versehen gegen ein paar Soldaten gelaufen?“, fragte Abyss grinsend.
„Aus Versehen, ganz genau, mein Freund“, wiederholte Steven zustimmend. „Oh, ich mag diese kleine Verschwörung hier. Unser Geheimnis. Wie eine Familie. Siehst du Mädchen, so geht das!“ Er wandte sich Gibbli flüsternd zu. „Dein Mensch und ich sind jetzt wie zwei Brüder.“
„Sind wir nicht“, knurrte Abyss.
„Brüder müssen sich ja nicht mögen. Tja, der Einzige der keine Ahnung hat, was auf seinem Schiff vorgeht, ist wohl der“, Steven drehte sich um und blickte direkt in die Augen von Sky, „Kapitän, wow!“
Gibbli zuckte zusammen.
Den Kopf nach vorne gebeugt, um nicht gegen die niedrige Decke zu stoßen, kam er mit düsterem Blick auf sie zu.
„Na dann, erzählt mir mal, was genau der Kapitän nicht weiß.“
Alle drei schwiegen. Steven versuchte, mit dem Fuß den Adapter aus seinem Sichtfeld zu schieben.
„Sagt mir, was das ist“, verlangte Sky.
Der Oceaner legte den Kopf schief und zuckte mit den Schultern. „Hm. Keine Ahnung. Noch nie gesehen.“
„Mir erklärt jetzt sofort jemand, warum du blutverschmiert bist!“, fuhr Sky ihn an.
„Hässlich, nicht wahr, Kapitän? Leider ist es nicht meins. So eklig!“
„Ich verlange, auf der Stelle, zu erfahren, was, hier, vorgeht!“ Er drehte sich herum. „Abyss, rede!“
Dieser schüttelte entschuldigend den Kopf. „Von mir erfährst du das nicht.“
Plötzlich zog der Kapitän seine Waffe und schoss. Der Strahl zischte scheinbar knapp an Steven vorbei, der ihnen den Rücken zugewandt hatte. Dann wurde Gibbli klar, dass der Strahl nicht die Wand erreicht hatte. Der Oceaner erstarrte, bewegungslos. Über die Schulter hinweg wandte sich Sky ihm mit zusammengebissenen Zähnen zu. Er hatte geschossen, ohne hinzusehen! Steven drehte sich langsam um.
„Keiner geht, bevor ich eine Antwort habe, auch nicht durch Wände, ich habe diese ständige Geheimnistuerei satt!“, knurrte Sky in die angespannte Stille hinein.
Steven strich mit einem Finger über seine linke Schulter und hob ungläubig den Kopf. „Du hast mich erschossen! Ich bin tot! Ich bin tot! Tot, tot, tot! Du hast mich ... wirklich das ... das ist mein eigenes Blut.“
„Gut erkannt. Ich habe dich angeschossen. Aber den Tod hättest du mit Sicherheit verdient. Und diesen gebe ich dir mit Freuden, wenn du mir nicht sofort erklärst, was das dort am Boden darstellen soll!“
„Nein, nein, nein, das ist nicht fair Kapitän, nein, das ist es nicht. Du wolltest deine Ruhe, uns heute nicht mehr sehen und jetzt begibst du dich hier her? Bedeutet das, wir müssen vor dir weglaufen, weil du uns sonst siehst?“
Sky trat einen Schritt auf ihn zu. „Nicht fair? Du willst mir ernsthaft etwas über Fairness erzählen? Schön. Gut. Reden wir über Fairness. Nein, weißt du was, ich zeige dir sogar, was das ist.“ Bevor Steven etwas tun konnte, schoss Sky ihm ins Bein.
Gibbli wich entsetzt zurück. Der Oceaner schrie auf und hielt sich an der Wand fest, durch die er gerade noch hindurchgehen wollte.
„Das, mein lieber Oceaner, ist fair. Gleiches mit Gleichem, damit habe ich zu lange gewartet. Damals warst du noch nicht in meiner Crew. Aber jetzt bist du es. Erinnerst du dich daran? Ich bin mir sicher, Gibbli tut es.“
Und wie sie das tat. An das Messer, das Steven ihr damals vor dem Portal in ihre Schulter gestochen hatte, erinnert sie sich gut. Und Sky hatte ihn auch noch genau an der gleichen Stelle durchlöchert, an der Steven ihr bei den Tiefseemenschen die Finger hinein gerammt und ihr das Bein gebrochen hatte. Gibbli blickte beunruhigt zu Abyss, der sie ebenfalls kurz ansah. Sie verstand sofort, was er ihr still sagen wollte. Sein Gesicht zuckte Richtung Sky, dann wieder zu ihr. Er hatte recht. Das artete aus. Einen Kapitän wie ihn zu verärgern war offensichtlich das dümmste, was man machen konnte. Sie zögerte, dann gab sie sich einen Ruck.
„Das ist ein Adapter.“ Ihre Stimme erklang kaum hörbar.
Doch um sie herum war es so lautlos, dass Gibbli sich sicher war, dass alle jedes einzelne Wort verstanden hatten. Sky senkte langsam die Waffe.
Gibbli wagte kaum zu atmen, als der Kapitän sich ihr zuwandte. „Wofür?“
Sie hielt seinem Blick stand und flüsterte dann: „Um den Schutzschild der Mara zu reparieren, den ich kaputt gemacht hab.“
Für einen Moment schien die Zeit still zu stehen. Dann nickte er. „Repariere ihn.“ Sky wandte sich von ihnen ab und ging.
Mit offenem Mund starrte Gibbli auf seine Kampfstiefel, die jetzt um die nächste Ecke bogen und in den Weiten der Maschinenräume verschwanden. Das war alles? Das war verdammt noch mal alles?
„Wenn man ihn nicht bescheißt, ist er nachsichtiger, als man annehmen mag. Es sind die Lügen, die er nicht ausstehen kann“, sagte Abyss leise.
„Wo ist eigentlich Sam?“, fragte Steven.
„Sie schläft bestimmt wieder“, antwortete Gibbli in Gedanken versunken. Sie konnte nicht glauben, dass es so einfach gewesen war.
„Und warum kümmert sich keiner um sie? Sie muss doch werfen! Ich sehe nach ihr! Sam ist wichtig. Nun, nein, nicht sie. Versteht ihr? Nein, das tut ihr natürlich nicht. Repariert meine Mara!“ Steven humpelte mitten durch die angrenzende Wand hindurch.
„Der gehört auch repariert.“ Abyss schüttelte nachdenklich den Kopf. „Er sorgt sich um andere? Ich hab das Gefühl, seit ich zurück bin, ist hier jeder wie ausgewechselt.“
Er wandte sich ihr zu und Gibbli erwiderte sein Lächeln.
Es gab noch immer einiges, was Gibbli beschäftigte, doch jetzt, wo Sky davon wusste und sie nicht auf der Stelle erschlagen hatte, erschien ihr alles nicht mehr so schlimm. Sie bekam mit, dass er Steven sogar verarzten wollte und es würde sicher nicht lange dauern, bis der Oceaner wieder herumstolzieren und ihnen auf die Nerven gehen würde. Durch seinen mitgebrachten Adapter war die Reparatur des Schutzschildes nur noch eine Sache von Sekunden. Es dauerte keine Minute, bis sich die Felder wieder aufbauten. Und Gibbli fühlte sich satt, eigentlich sogar zu satt. Die Schüssel mit Resten von Samanthas am Morgen gekochten Essens aß Gibbli zwar nur zögernd, doch Abyss, der es ihr wortlos vor die Nase gehalten hatte, sah nicht aus, als würde er darüber mit sich diskutieren lassen. In dem Wissen, dass er keinen Meter weiter lag, schlief sie schnell ein und zum ersten Mal seit Tagen sogar fast die ganze Nacht durch. Gibbli erwachte erst, als die Sonnenstücke anfingen aufzuglühen und den neuen Tag verkündeten. Leise stieg sie über Abyss, der schlafend vor ihrer Hängematte am Boden lag. Sie lächelte. Wie früher. Und Gibbli hatte das Gefühl, wenn sie ihn ansah, konnte sie einfach alles schaffen. Entschlossen stieg sie nach oben, trat durch die Schleusen der Mara und begab sich in das weite Labyrinth Oceas, um zu trainieren.
Auf dem Rückweg zur Mara hätte sie beinahe Djego über den Haufen gerannt, der über die Verbindungsstrecke von den Andockstellen zur Stadt kam. Wahrscheinlich hatte er sich wegen der Entscheidung mit Sky getroffen. Er trat nicht zur Seite und sie schaffte es gerade noch, vor ihm anzuhalten.
„Hallo, Vielleichteinwenigmehrfreundin“, sagte er.
Gibbli wusste nicht, was sie erwidern sollte. Außer Atem dachte sie fieberhaft nach. Hallo? War das das richtige Wort? Hieß das so? Sagte man das wirklich?
Mit seiner ihm typischen Bewegung wischte er sich die Locken aus der Stirn. „Sogar zerzaust siehst du unglaublich hübsch aus.“
Sie blickte zu Boden. Musste er sich auch noch über sie lustig machen? Wieder stieg dieses nervige Kribbeln in ihrem Bauch hoch.
„Hey, also das von gestern, das tut mir leid.“
„Ich ...“ Gibbli dachte nach. Es wollten ihr keine Worte kommen. Er sprach so gelassen, als würde die ganze Welt ihm gehören, als würde ihn nichts kümmern.
„Hab mitbekommen, dass du Ärger hattest mit dem Kapitän, wegen dieser Konsole?“
Sie sollte jetzt ja sagen oder nein oder irgendetwas. Warum gab es auf der Akademie keinen Kurs, in dem man lernte, wie man nicht dumm herum stand, wenn man etwas gefragt wurde? Wahrscheinlich gab es den sogar, doch in den Sozialkursen hatte sie nie aufgepasst. Gibbli wollte keine passende Reaktion einfallen. Das Einzige, was ihr in den Sinn kam, war diese dämliche Aufgabe von Steven.
„Ich hörte euch noch reden, als ich ging. Es war meine Schuld, ich habe dich abgelenkt, oder?“, fragte Djego.
Was würde passieren, wenn sie an der Reihe war und nichts tat? Wenn sie Steven keine neue Aufgabe stellen würde, sondern einfach darauf verzichtete?
„Ich mache das wieder gut, was meinst du dazu?“
Sie hätte endlich Ruhe vor ihm! Der Oceaner könnte nichts mehr tun, weil er nicht dran wäre, niemals mehr dran wäre. Wenn sie jetzt seine letzte Aufgabe erfüllen würde, wäre es vorbei. Gibbli müsste nie wieder über das Spiel nachdenken. Wenn sie ihn jetzt ... Erschrocken blickte sie auf, als sie sich Djegos Anwesenheit wieder bewusst wurde. Warum stand er plötzlich so nahe vor ihr? Gibbli hatte nicht bemerkt, wie er näher gekommen war. Sie wollte zurück treten, doch ihre Beine gehorchten ihr nicht. Unbehaglich nahm sie wahr, wie Djego eine Barriere überschritt, die sie in Gedanken um sich herum errichtet hatte.
„Träumst du?“ Seine türkisfarbenen Pupillen erstrahlten.
Gibbli schluckte. „Ich ...“
„Ich hoffe doch von mir.“ Djegos Mundwinkel zogen sich leicht nach oben.
Während Gibbli ihn bewegungslos anstarrte, kam sein Gesicht immer näher auf das ihre zu. Plötzlich fand sie es gar nicht mehr schön. Seine gebräunte Haut wirkte von nahem eher abstoßend. Steven sollte sich seine blöde Aufgabe sonst wo hin stecken! Das hier war falsch! Djego durfte das nicht tun, sie wollte das nicht! Sie musste hier weg, sofort! Er hielt sie nicht einmal fest, Gibbli konnte jederzeit gehen. Wenn ihre Beine nur gehorchen würden, wenn diese dummen Arme nicht so nutzlos an ihr herabhängen würden, wenn ihre weit aufgerissenen Augen sich doch nur schließen würden, um sich seinem Anblick zu entziehen. Irgendwo hinter ihr ertönten leise Schritte. Gibbli zuckte zurück, doch bevor sie sich umdrehen konnte, hob Djego seine Hand, zog ihren Kopf nach vorne und drückte seine Lippen auf ihren Mund. Überrascht stellte Gibbli fest, dass sich seine Haut härter anfühlte, als erwartet. Das Geräusch der Schritte verstummte. Gibbli riss sich von Djego los und fuhr herum. Wieder erstarrte sie mitten in der Bewegung. Da stand Abyss und fixierte sie mit seinen grauen Augen. Kalte Augen, die sie durchbohrten wie spitze Eispflöcke. Augen, die schrien, aus seinem blassen Gesicht heraus, das mit versteinerter Miene jegliche Emotionen verloren hatte.
„Ich hab dich gesucht“, sagte er tonlos. „Du solltest nicht allein in der Stadt umherschleichen. Aber wie es aussieht ... bist du ja nicht allein. Und hörst nicht auf mich.“
„Abyss ...“, flüsterte Gibbli.
„Fahr zur Hölle.“ Er drehte sich um und ging.
„Abyss!“, schrie sie.
Noch im Sprung spürte sie Djegos Griff um ihren linken Arm.
„Nicht! Abyss!“ Er verschwand hinter der nächsten Ecke. „Ich wollte das nicht!“
„Du willst ihm hinterher? Diesem alten Mann?“, rief Djego aufgebracht.
„Ich wollte dich nicht-“
„Aber du hast es getan!“
„Du hast es getan!“, fuhr sie ihn an. Gibbli holte zum Schlag aus und traf Djego in den Bauch. Er stöhnte auf und krampfte für einen Moment zusammen. Das nutzte Gibbli aus und riss sich los. Es funktionierte ja doch, wenn ihr Gegner nicht gerade ein übermächtiger Flottenführer namens Sky war. Ohne Djego weiter zu beachten, rannte sie Abyss hinterher, in die Gänge der Stadt hinein.
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